Natur und Geheimnis.

Kritik des Naturalismus durch

moderne Physik und scotische Metaphysik

 

In meiner Habilitationsschrift suche ich einen neuen Ansatz, um den verschiedenen naturalistischen Positionen in Vergangenheit und Gegenwart kritisch antworten zu können. Ich gehe von der immer wieder in Vergessenheit geratenen Einsicht aus, dass alles wissenschaftliche Erkennen prinzipiell nur einen Aspekt der Wirklichkeit erfassen kann, nämlich die Züge des Allgemeinen und Notwendigen. Dem steht der existentielle Aspekt gegenüber, d.h. insbesondere die kontingente Zeit- und Individualbestimmung. Nur ein komplementäres Zusammenhalten beider Aspekte wahrt das Geheimnishafte der Wirklichkeit und wehrt naturalistische Extrempositionen ab, die entweder als Reduktion auf das Essentielle oder als Behauptung einer absoluten, quasi mythischen Unergründbarkeit des Seins in Erscheinung treten.

Vor diesem Hintergrund kann die Quantentheorie als Wiederentdeckung des existentiellen Aspekts im Bereich der Physik gedeutet werden; sie ist eine transzendentale Erkenntniskritik der klassischen Physik. Sogar die Relativitätstheorie ist für eine entsprechende Deutung offen: Zwar wird sie meist in der Weise verstanden, daß sie die Zeit geometrisiert und so begrifflich fixiert und quasi stillegt, aber die in ihr enthaltene Analogie von Raum und Zeit kann ebenso gut als Verzeitlichung des Raumes gedeutet werden, d.h. als Entdeckung eines außer-mathematischen, existentiell-dynamischen Aspekts sogar des Raumes.

Die philosophische Brisanz der physikalischen Theorien wird deutlich, wenn man sie vor dem Hintergrund epochaler philosophisch-theologischer Entwürfe liest, die auf naturalistische Konzeptionen ihrer Zeit zu antworten versucht haben. Paradigmatisch wird die Konfrontation mit Theorien von Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus vollzogen. Dabei erweist sich die Formaldistinktion des Duns Scotus als ein geeignetes Denkmittel, um die Balance zwischen Essentialismus (Begriffsrealismus) und Nominalismus zu halten. Die Theorien vom Individuum und von der Freiheit lassen Scotus im Vergleich zu Thomas als den kritischeren und radikaleren Denker erscheinen, der sich, geführt von der christlichen Offenbarung, mehr vom aristotelischen Schema gelöst hat. Sein Person- wie sein Freiheitsbegriff sind im Kern antinaturalistisch, noch tiefer und besser begründet als die entsprechenden Vorstellungen des Aquinaten. Der scotische Ansatz kann sich mit der Vernunftkritik Kants durchaus messen und hält auch für die moderne Debatte z.B. in der sprachanalytischen Philosophie überraschende Lösungen bereit. Seine Individuations- und Freiheitslehre kann sogar als Vorwegnahme der quantentheoretischen Kritik der klassischen Physik gedeutet werden. – Dies wird im Schlussteil eingehend ausgeführt, womit zugleich die Prolegomena für einen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft angedeutet sind.

INHALT

Vorwort...............................................................................................................................................................................

Einleitung..............................................................................................................................................................................

Vorblick auf den Gedankengang – seine theologische Relevanz..................................................................................

Essentialistische und holistische Wirklichkeitsauffassung. Ein heuristisches Paradigma..........................................

Der aristotelische Potenzbegriff als Vermittlung von Sein und Zeit..........................................................................

Einige Hinweise zum systematischen und hermeneutischen Ansatz......................................................................

Zusammenfassung der Gedankenfolge.......................................................................................................................

Erster Teil: Essentielle und existentielle Aspekte in der modernen Physik.......................

Erster Abschnitt: Die Neigung zum Essentialismus.......................................................................................

§ 1    Raum und Zeit in relativistischer Betrachtung..........................................................................................

1.1     Absoluter und relativer Raum. Freie Bezugspunktwahl.............................................................................

1.2     Die klassische Transformation der relativen Bewegung..............................................................................

1.3     Essentielle Raum-Zeit: Die spezielle Relativitätstheorie............................................................................

1.3.1       Raumartige Ereignispaare. Zeitverschiebung und Lorentzkontraktion...............................................

1.3.2       Zeitartige Ereignispaare: das Zwillingsparadoxon..............................................................................

1.3.3       Invarianz und Objektivität.................................................................................................................

1.4     Gekrümmte Raum-Zeit: Die allgemeine Relativitätstheorie als Übergang zu beliebig bewegten Bezugssystemen?          

1.5     Essentielle und existentielle Aspekte...........................................................................................................

1.5.1       Die Analogie von Ortsbewegung und Zeitverschiebung. Das existentielle Vergehen der Zeit............

1.5.2       Der existentielle Zeitaspekt und die Einheit der Physik.................................................................

Zweiter Abschnitt: Die Neigung zum Holismus...............................................................................................

§ 2    Der quantentheoretische Zeitaspekt..........................................................................................................

2.1     Die Unmöglichkeit einer klassischen Physik...........................................................................................

2.2     Der Welle-Körper-Dualismus und die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie..................................

2.3     Zeit und Wahrscheinlichkeit. Quantenlogik...................................................................................................

2.4     Das Bohrsche Postulat klassischer Beschreibung der realen Messung........................................................

2.5     Verschränkte Systeme. Der Holismus der Quantentheorie..........................................................................

Zweiter Teil:...............................................................................................................................................................

Scholastische Modelle an den Grenzen des Begriffs. Thomas und Scotus......................

Erster Abschnitt: Die Deutung des Sagbaren................................................................................................

§ 3    Idealer Sinn und realer Bezug. Thomas und Scotus über das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit               

3.1     Die natura communis als fundamentum in re der Begriffe.................................................................

3.2     Formale Vielheit und reale Einheit: die Formaldistinktion.....................................................................

3.2.1       Stufen der Einheit.............................................................................................................................

3.2.2       Erster Einwand: die Realität wird zerschnitten................................................................................

3.2.3       Zweiter Einwand: Irrige Einführung einer distinctio media.............................................................

3.2.4       Vermittlung zwischen Realem und Idealem.....................................................................................

3.2.5       Die Formalitäten im realen Gefüge von Substanz und Akzidens................................................

3.2.6       Exkurs: Ockhams Semantik und die Folgen......................................................................................

§ 4    Die Intentionalität des Geistes als reduzierendes Wissen und ganzheitliches Schauen nach Duns Scotus         

4.1     Einleitende Vorbemerkung.....................................................................................................................

4.2     Begriffliche Erkenntnis und Wissenschaft.................................................................................................

4.2.1       Der Vorgang der Abstraktion............................................................................................................

4.2.2       Allgemeinheit und Notwendigkeit des abstraktiven Wissens...........................................................

4.2.3       Wissensfortschritt und Substanzerkenntnis..................................................................................

4.3     Geistige Anschauung des existierenden Einzelnen.......................................................................................

4.3.1       Die Visio Dei als Ausgang der Spekulation über die cognitio intuitiva.............................................

4.3.2       Die Beschränkung auf die Sinneserkenntnis................................................................................

4.3.3       Die notwendige Ergänzung der abstraktiven durch die intuitive Erkenntnis................................

4.3.4       Anschauung, Existenz und Zeitbestimmung.....................................................................................

Zweiter Abschnitt: Das Unsagbare............................................................................................................

§ 5    Das unsagbare Individuum.....................................................................................................................

5.1     Die Materie als Plurifikationsprinzip.......................................................................................................

5.2     Heuristische Vorbemerkung: ontologische und anthropologische Kritik..................................................

5.2.1       Allgemeine Kritik: Kategorienvermischung...................................................................................

5.2.2       Spezielle Kritik: Die Sonderstellung der geistigen Seele.................................................................

5.3     Die Einzigartigkeit der Geistseele nach Thomas von Aquin.....................................................................

5.4     Prolegomena zur Neubestimmung des individuellen Seins........................................................................

5.4.1       Die Kommunikabilität des Wesens...............................................................................................

5.4.2       Differenzierung im Begriff der Materie............................................................................................

5.4.3       Wesen und Suppositum...................................................................................................................

5.5     Vollkommenheit und Würde des individuellen Seins...................................................................................

5.5.1       Die erstliche Verschiedenheit der individuellen Differenz................................................................

5.5.2       Individualität und Personalität..........................................................................................................

5.5.3       Das Individuum in akzidenteller und gradueller Seinsentfaltung......................................................

5.6     Die relative Unerkennbarkeit des Individuums...........................................................................................

5.6.1       Die Intelligibilität des Singulären......................................................................................................

5.6.2       Die Unerkennbarkeit des Singulären pro statu isto.........................................................................

5.6.3       Die Erkennbarkeit der Materie.................................................................................................

5.6.4       Mitteilung des Unmitteilbaren.........................................................................................................

§ 6    Die unableitbare Freiheit........................................................................................................................

6.1     Die finalistische Freiheitslehre von Thomas von Aquin..............................................................................

6.1.1       Die erkenntnisorientierte Perspektive..............................................................................................

6.1.2       Die handlungsorientierte Perspektive...............................................................................................

6.1.3       Die Synthese der Perspektiven.........................................................................................................

6.1.4       Intellekt und Wille als rationale Vermögen nach Thomas................................................................

6.2     Freiheit als Selbstbestimmung nach Duns Scotus........................................................................................

6.2.1       Der Wille als rationales Vermögen nach Scotus................................................................................

6.2.2       Übersicht über die Differenz von Natur und Geist.......................................................................

6.3     Freiheit und Naturnotwendigkeit.........................................................................................................

6.3.1       Die Verschärfung des Kontingenzbegriffs....................................................................................

6.3.2       Das Vorherwissen Gottes.................................................................................................................

6.4     Freiheit und Neigung...................................................................................................................................

6.4.1       Freiheit und Willensneigung...........................................................................................................

6.4.2       Affectio commodi und affectio iustitiae.........................................................................................

6.4.3       Die Liebe als habituelle Vollkommenheit des Willens....................................................................

Schluß.............................................................................................................................................................................

§ 7    Das Fundament des Dialogs zwischen Theologie und Naturwissenschaft........................................

7.1     Im Spiegel der modernen Physik..............................................................................................................

7.1.1       Der Fehler des ontologischen Gottesbeweises.............................................................................

7.1.2       Der Traum der absoluten Essentialisierbarkeit.................................................................................

7.1.3       Das Ende des Traums.......................................................................................................................

7.2     Im Spiegel philosophisch-theologischer Entwürfe.......................................................................................

7.2.1       Der doppelte Begriff der Potenz......................................................................................................

7.2.2       Der neue Zeitbegriff..........................................................................................................................

7.3     Der Gewinn für die Physik.........................................................................................................................

7.3.1       Nochmalige Reflexion unseres Weges..............................................................................................

7.3.2       Relativität und Essentialität..............................................................................................................

7.3.3       Komplementarität.............................................................................................................................

7.4     Die Relevanz der Physik für die Theologie..................................................................................................

Anhang: Ableitung der Lorentztransformation.............................................................................

Voraussetzung der Invarianzgeschwindigkeit c.....................................................................................................

Voraussetzung der relativen Zeitverschiebung w.................................................................................................

Einführung des Relativitätsprinzips...................................................................................................................

 

Leseprobe

Zusammenfassung der Gedankenfolge

Mancher Leser mag vor dem physikalischen Inhalt des ersten Hauptteils zurückschrecken. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieser Teil keine besonderen Anforderungen an das physikalische Wissen stellt. Es geht ausschließlich um philosophische Fragen, die freilich nicht abzusondern sind von unserer derzeitigen Erkenntnis der materiellen Welt. Diese Abhandlung hat in allen ihren Teilen das Ziel aufzuzeigen, daß ein gewisses philosophisches Vorurteil der Grund dafür ist, daß die Wissenschaften für einen fundamentalen Aspekt der Wirklichkeit blind sind. Diesen Aspekt nenne ich den existentiellen, weil er das konkrete Dasein bzw. die jeweilige Gegenwart betrifft. Die Wissenschaften sind hingegen auf den essentiellen Aspekt fixiert, d.h. denjenigen, der sich dem Begreifen fügt. Das Verschwinden des existentiellen Aspekts in der relativistischen Physik, greifbar an deren Tendenz, die Zeit zu verräumlichen, hat eine Jahrzehnte dauernde und bis heute nicht abgeschlossene Debatte darüber ausgelöst, ob Einsteins Relativierung der Newtonschen absoluten Zeit wirklich gerechtfertigt ist.[1] Denn es scheint so, daß die Relativitätstheorie zu einer Zeitauffassung zwingt, in der kein Platz mehr ist für die alltäglich erfahrene Besonderheit des gegenwärtigen Jetzt, das beständig „verfließt“ und wie eine Kluft die gewesene Vergangenheit von der noch ausstehenden Zukunft scheidet.

Die allein zu diesem Thema vorliegende Literatur ist kaum zu überblicken. Man gewinnt allerdings gelegentlich den Eindruck, daß hier in angestrengter und anstrengender Weise „herumargumentiert“ wird, wie Heidegger das einsichtslose Philosophieren treffend gekennzeichnet hat. Wir wollen uns nicht direkt in das Feld solcher Auseinandersetzungen begeben – auch auf die Gefahr hin, uns den Vorwurf einzuhandeln, die verschiedenen Standpunkte heutiger, zumeist analytischer Wissenschaftsphilosophen nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Wir erwarten vielmehr Licht von einem anderen Zugang zu solcherart Fragen, nämlich von der leitenden Grundintuition, daß die Wirklichkeit sich von verschiedenen Aspekten her erschließt, die sich gegenseitig begrenzen und doch komplementär ergänzen.

In Vorwegnahme des Ergebnisses dieser Untersuchung möchte ich schon jetzt darauf hinweisen, daß dieser Ansatz in der Tat in der Lage ist, Licht in verschiedene kontrovers diskutierte Zusammenhänge zu bringen. Insbesondere können wir die Ergebnisse der Relativitätstheorie ganz gelassen hinnehmen, ohne die existentielle Zeitstruktur aufgeben zu müssen; sie durch Wiedereinführung des Newtonschen absoluten Raumes retten zu wollen, kann dagegen nur als Ausdruck der Verzweiflung gewertet werden.

Wie also verläuft unsere konkrete Gedankenfolge? Zum Zwecke der besseren Verständlichkeit möchte ich für diesen Überblick die Abfolge der Hauptteile umkehren und mit dem zweiten Hauptteil beginnen, weil hier die Begriffe entwickelt werden, die das Verstehen der Überlegungen des ersten Hauptteils erleichtern. Eine solche Umkehr ist unproblematisch, weil ich ohnehin der Überzeugung bin, daß sich die Gedanken nur im Kreisgang klären, so wie sie sich auch bei mir selbst nur durch ständiges Bedenken und Vergleichen metaphysischer Konzepte und physikalischer Erkenntnisse nach und nach erschlossen haben. Darum ist es auch möglich, in die Lektüre dieser Abhandlung mit dem metaphysischen Teil einzusteigen.

Unsere These im zweiten Hauptteil ist, daß die metaphysischen und erkenntniskritischen Entwürfe des Thomas von Aquin und des Duns Scotus Licht auf die Frage werfen, wie weit unsere begriffliche Erkenntnis der Wirklichkeit reicht und wo gleichsam das Geheimnis beginnt. Der erste Abschnitt thematisiert die Deutung des Sagbaren, der zweite das Unsagbare. Die Erklärung, warum das Wirkliche aspektuell sagbar ist, läuft darauf hinaus, essentielle Strukturen anzunehmen, die begrifflich faßbar sind. Wir zeigen, wie Duns Scotus im Ausgang von Avicenna diese Strukturen mit dem Konzept der „natura communis“ zu verstehen suchte und mittels des von ihm entwickelten Denkmittels der distinctio formalis näher differenzierte. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir dem Einwand Ockhams gegen dieses Verfahren und legen dar, warum es dem Nominalismus nicht gelingt, die begriffliche Bezugnahme auf Wirkliches zu erklären. In einem weiteren Schritt entwickeln wir die scotische Lehre von der abstraktiven und intuitiven Erkenntnis. Die beiden Erkenntnisweisen ergänzen einander, indem die eine dem Beschreiben, die andere dem Zeigen zugeordnet ist. Doch der Primat gebührt der Intuition, da nur sie die kontingente Wirklichkeit erfaßt, wohingegen die Abstraktion das Wesen lediglich als mögliches begreift.

Im zweiten Abschnitt untersuchen wir, inwiefern zum einen das Individuum unsagbar und zum anderen Freiheitsäußerungen unableitbar sind. Ausführlich wird die thomistische Lehre von der Individuation durch die räumlich bestimmte Materie erörtert und mit den scotischen Einwänden konfrontiert. Diese Einwände waren motiviert durch die Gefahr, die einzigartige Personmitte des Menschen und seine individuelle, zeitüberbrückende Identität angesichts der averroistischen Argumente nicht mehr denken zu können. Auch hier ist die distinctio formalis das Mittel, um verständlich zu machen, warum der rationale Zugriff auf individuelle Wesenheiten deren einmalige Besonderheit nicht zu erfassen vermag, denn die formale Einheit, die dem Begriff eignet, bleibt indifferent gegenüber beliebig vielen aufzeigbaren Einzeldingen, die unter ihn fallen können, was nicht Folge der vereinzelnden Materie ist, sondern die prinzipielle Schwäche des Begriffs anzeigt. Die letzte Differenz eines individuell Existierenden kann nicht durch einen Begriff bestimmt, sondern nur negativ als „haecceitas“ postuliert werden.

Etwas Analoges zeigt sich hinsichtlich der Freiheit des Menschen, die angesichts einer zunehmend deterministischen Weltsicht angefochten war. Thomas und Scotus stimmen darin überein, daß sie den Willen dadurch als frei bestimmen, daß er der Urheber seiner Akte sei. Scotus geht aber einen Schritt über Thomas hinaus, indem er von einer spontanen Selbstbestimmung des Willens spricht, die ihn von allen Naturagentien unterscheidet. Freiheit und Natur werden so als Gegensätze verstanden. Der Freiheit stehen gegensätzliche Alternativen zu Gebote, und zwar in ein und demselben Zeitpunkt. Nur so läßt sich nach Scotus die Kontingenz der Ereignisse denken und der Determinismus vermeiden. Wir stellen kurz dar, wie diese Radikalisierung eine Neubestimmung des Vorherwissens Gottes erforderlich macht, und erörtern schließlich, warum dieser Freiheitsbegriff nicht zu einem irrationalen Dezisionismus führt, sondern sich harmonisch in die Lehre von naturalen Neigungen einfügen läßt.

Die skizzierte scholastische Lehre wurde in der Neuzeit durch erneuerte naturalistische Versuchungen angefochten. Das Individuum sollte durch einen Begriff endgültig bestimmt werden können, in dem alle seine akzidentellen Eigenschaften und Handlungen quasi zeitlos eingeschlossen sind (Leibniz), die Freiheit sollte wegerklärt werden als bloß subjektives Erlebnis, das sich allein aus dem fehlenden Wissen des Subjekts über seine eigene komplexe Determinationsstruktur verstehen läßt (Laplace). Für beide Absichten wurde die Naturwissenschaft bemüht, insbesondere die (klassische) Physik. Unserer Terminologie gemäß sind sie beide gleicherweise dem essentialistischen Paradigma verpflichtet. Darum ist die Untersuchung vordringlich, ob und inwieweit die moderne Physik dieses Paradigma unterstützt. Andererseits lassen sich Einwände gegen die Individualität und Freiheit auch aus holistischer Perspektive formulieren: Wenn es unmöglich ist, aus dem Ganzen die Teile zu trennen, mit welchem Recht können wir dann Individuen unterscheiden? Wenn alles mit jedem zusammenhängt, wie sollen wir dann einen echten Anfang denken, den doch die Freiheitsauffassung unterstellen muß?

Wir müssen uns mit diesen Fragen eingehend auseinandersetzen und dazu die moderne Physik befragen. Darum geht es im ersten Hauptteil. Ganz generell können wir feststellen, daß die relativistische Physik ein essentialistisches Denken zu befördern scheint, während die Quantenphysik eher eine holistische Deutung nahelegt. Diese grobe Zuordnung kann präzisiert werden durch die Weise, wie die jeweiligen Neigungen zum Essentialismus bzw. zum Holismus auf einer spezifischen Zeitauffassung gründen: Die relativistische Physik behandelt zukünftiges Geschehen tendenziell wie vergangenes, die holistisch gedeutete Quantentheorie kennt keine vergangenen Fakten, sondern nur eine ständige Gegenwart miteinander verschränkter zukünftiger Möglichkeiten. Diese Skizzierung zeigt schon die Notwendigkeit an, vor allem den physikalischen Zeitbegriff näher zu untersuchen. Der leichteren Übersicht halber stellen wir schon vorab fest: Die essentialistische und die holistische Deutung stimmen darin überein, daß sie den existentiellen Zeitaspekt ignorieren. Wenn sich aber zeigt, daß dies ein Mißverständnis der jeweiligen physikalischen Disziplin ist, dann widerlegt die unumgängliche Berücksichtigung des existentiellen Zeitaspektes sowohl die essentialistische Gleichbehandlung von Vergangenheit und Zukunft als auch die holistische Streichung der Vergangenheit.

Der erste Abschnitt des ersten Hauptteils ist überschrieben mit: „Die Neigung zum Essentialismus“. Wir entwickeln hier die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie in ihren Grundzügen, freilich nicht in der Weise eines Lehrbuchs der Physik, sondern ausgehend von philosophischen Fragen. Höhere mathematische Kalküle werden nicht benutzt, was jedoch der Sache nicht abträglich ist. Wir nehmen den klassischen Streit um den absoluten oder nur relativen Raum zum Ausgangspunkt für die ganz grundsätzliche Frage, nach welchem Kriterium die Objektivität von Begriffen beurteilt werden soll. Von Relevanz ist hier das essentialistische Axiom von der Identität des begrifflich Ununterscheid­ba­ren. Folgt man diesem Axiom, dann können nur solche Vorstellungen als objektiv angesehen werden, die von rein räumlichen bzw. anschaulichen Unterschieden absehen. Unter dieser Voraussetzung erweisen sich letztlich nur die bezugsunabhängigen Größen (Invarianten) von gewissen Relationen (Transformationen) als objektiv. Sie sind der Gegenstand geometrischer Betrachtungen. Physikalisch relevant werden diese Überlegungen allerdings erst, wenn auch zeitliche Verhältnisse mit einbezogen werden. Das Basisphänomen hierfür ist die Bewegung, deren Maß, die (relative) Geschwindigkeit, (relative) Raum- und Zeitgrößen miteinander ins Verhältnis setzt. Das Ziel der Relativitätsphysik besteht darin, auch hier quasi-geometrische Invarianten zu entdecken. Dazu setzt sie die Raum- und Zeitgrößen zwischen zwei relativ bewegten Systemen zueinander ins Verhältnis und betrachtet die Eigenschaften dieser Transformation. Deren genaue Gestalt wird wesentlich konstituiert durch die Annahme einer invarianten oder quasi-absoluten Geschwindigkeit, d.h. einer solchen, deren Wert sich nicht ändert beim Wechsel vom einen in ein anderes Bezugssystem. Diese Annahme ist nicht willkürlich, da sie von der Elektrodynamik gefordert wird (Invarianz der Lichtgeschwindigkeit). Daraus folgt indessen zwingend, daß die quantitative Dauer eines Geschehens vom Bezugssystem abhängig wird.

Wir diskutieren die merkwürdigen Folgen dieser Relativierung der Zeit, insbesondere das sog. Zwillingsparadoxon. Zur Allgemeinen Relativitätstheorie leiten wir über, indem wir mit Einstein fragen, ob sich auch beschleunigte Systeme als Bezugssystem eignen. Dies ist deshalb problematisch, weil Beschleunigungen Trägheitskräfte auslösen, die nach Newton auf den absoluten Raum zurückzuführen sind. Einstein wollte auch diese Kräfte relativieren und so die Annahme des absoluten Raumes unnötig machen. Wir zeigen, daß diese Idee nicht bestätigt wurde, daß die Gravitationstheorie Einsteins vielmehr ein Moment des absoluten Raumes wieder in die Physik einführte, nämlich die existentielle Dimension von Raum und Zeit, die sich in ihrer kontingenten „Krümmung“ manifestiert, welche wiederum durch die existierenden Massenballungen verursacht ist. Wir führen sodann aus, daß die essentialistische Auffassung der Raumzeit nur ein naheliegender und in Grenzen fruchtbarer Aspekt ist, die relativistische Physik zu deuten; ein gleichfalls möglicher und durchaus angemessener Aspekt ergibt sich in analoger Umkehrung: nicht nur die Zeit bewahrt, so betrachtet, ihren existentiellen Aspekt, indem sie unaufhörlich und in die Zukunft gerichtet vergeht, sondern auch der Raum ist existentiell gerichtet, indem er beständig expandiert und so die Wirkungsausbreitung in der Zeit (mit Lichtgeschwindigkeit) erst möglich macht.

Im zweiten Abschnitt wenden wir uns der Quantentheorie zu, um die Objektivität des existentiellen Aspekts der Zeit auf ganz anderem Weg zu erweisen. Der Titel „Die Neigung zum Holismus“ weist auf die klassisch unverständliche Eigenart von Quantenobjekten hin, sich untereinander zu untrennbaren Gesamtheiten verschränken zu können. Wir leiten die Darlegung mit einer Reflexion über die Voraussetzungen der klassischen Physik ein, die nicht alle zugleich erfüllbar sind. Die Unmöglichkeit zeigt sich im Kontinuumsbegriff, der eine Unendlichkeit von möglichen Zuständen impliziert, während das existentielle Geschehen nur endlich viele Freiheitsgrade besitzt. Nach klassischer Physik ist die sog. Ultraviolettkatastrophe unvermeidlich. Wir konzentrieren uns sodann auf das Herz der Quantenmechanik, die Zustands- oder Wellenfunktion. Gemäß der Kopen­ha­ge­ner Deutung ist sie als eine Art Wahrscheinlich­keits­katalog für zukünftige alternative Ereignisse anzusehen, also als eine Repräsentation des Möglichen, nicht unmittelbar des Wirklichen. Die Zustandsfunktion hat ein merkwürdiges Charakteristikum: sie läßt die Superposition (Überlagerung) von Einzelzuständen zu einem Gesamtzustand zu, in ganz ähnlicher Weise wie Wellen einander überlagern und sich gegenseitig verstärken oder auslöschen können. In dieser Eigenschaft liegt der Grund für die holistische Verschränkung.

Die statistische Deutung der Zustandsfunktion erfordert als Komplement das Postulat von Ereignissen, in denen wirklich wird, was vorher möglich, d.h. durch die Zustandsfunktion mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit determiniert war. Im einfachsten Fall gibt diese zwei Ereignismöglichkeiten (Alternativen) vor, von denen natürlich nur eine verwirklicht wird. Durch eine Messung wird eine Alternative entschieden, der unentschiedene Zustand reduziert. Der Unterschied von unreduzierten und reduzierten Zuständen, von unentschiedenen und entschiedenen Alternativen hat Konsequenzen für die Logik und ist der Grund für den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft. Die klassische zweiwertige Logik ist nur auf entschiedene Alternativen anwendbar, während die Indifferenz, die der unreduzierten Zustandsfunktion eignet, nur mit einer Logik ausgesagt werden kann, in der das Tertium non datur nicht gilt. Entschiedene Alternativen sind Fakten der Vergangenheit, unentschiedene Alternativen drücken zukünftige Möglichkeiten aus.

Die Superposition quantenmechanischer Zustände läßt den Meßprozeß rätselhaft erscheinen. Denn die Messung ist eine Wechselwirkung zwischen Meßapparat und Meßobjekt, die zu einer Überlagerung beider Zustandsfunktionen führt. Das berühmteste Beispiel ist Schrödingers Katze, die, als Meßgerät für ein radioaktives Atom betrachtet, in einem überlagerten Zustand zwischen Leben und Tod sein kann, indifferent: weder tot noch lebendig. Unsere Antwort auf dieses Problem greift auf unsere durchgängige Kritik der begrifflichen Repräsentation zurück: Die Zustandsfunktion ist zwar eine Repräsentation des Präsentischen, die insofern vollständig ist, als ihr keine relevante Größe entgeht, sie begreift aber nicht unmittelbar die zukünftigen Ereignisse. Die Indifferenz zu Alternativen, die sie ausdrückt, ist zwar objektiv, doch die wirklichen Ereignisse sind nicht indifferent, sondern different. Nur die begriffliche Repräsentation der Katze kennt einen überlagerten Zustand, die wirkliche Katze ist entweder tot oder lebendig. Darum folgt ein universaler Holismus miteinander verschränkter Zustände nur unter der Prämisse, daß Ereignisse gar nicht stattfinden und es somit keine irreversiblen Fakten gibt, was aber hieße, eine Welt zu denken, die keinen echten Zeitfortschritt kennt, sondern nur eine quasi präsentische Zukünftigkeit ohne Vergangenheit. Die Annahme dagegen, daß ständig Ereignisse stattfinden und auf diese Weise bis dahin Indifferentes entschieden wird, entspricht nicht nur der gewöhnlichen Zeiterfahrung, sondern löst auch die sonst unüberwindliche Schwierigkeit des Meßproblems.

Der Schlußteil bringt die Gedanken beider Hauptteile zusammen und macht sie füreinander fruchtbar. So wird auch die z.T. ungewöhnliche Wahl unserer Terminologie verständlich: die Unterscheidung verschiedener Stufen von Differenz (und Einheit) und der komplementäre Begriff der Indifferenz. Die Wirklichkeit ist Natur, sofern sie durch begriffliche Differenzen gedacht werden kann, sie ist Geheimnis, sofern sie existentielle oder außerwesentliche Differenzen trägt, denen gegenüber unsere Begriffe in einer unaufhebbaren Indifferenz stehen. Die Quantentheorie bestätigt insofern die scotische Metaphysik und weist mit dieser gemeinsam den Naturalismus zurück.

 

 

               Schluß

§ 7       Das Fundament des Dialogs zwischen Theologie und Naturwissenschaft

Wir haben unsere Arbeit begonnen mit einem heuristischen Modell zur Charakterisierung naturalistischer Denkformen. Als Umschreibung des Naturalismus diente uns die Formel: „Alles ist Natur“. Oder negativ: „Es gibt nichts als die Natur.“

In solchen Kurzformeln wird der Naturbegriff selbst nicht geklärt. Schon ein Blick in einschlägige Wörterbücher kann darüber belehren, wie aussichtslos es sein dürfte, eine durchgängige Bedeutung von „Natur“ zu ermitteln, die allseits akzeptiert würde, ohne völlig nichtssagend zu werden.[1] Darum haben wir eine andere Fragestellung bevorzugt: Welche Wissensmöglichkeiten des Wirklichen können wir uns a priori vorstellen?

Hinsichtlich dieser Frage schienen uns zwei Extreme möglich zu sein: eine affirmativ-optimistische und eine negativ-skeptische.

Wir waren dabei von der Intuition geleitet, daß beide Antworten gerade die zwei möglichen und tatsächlichen Spielarten des Naturalismus zum Ausdruck bringen, den Essentialismus und den Holismus:

„Alles ist Natur“ besagt (1): Alle scheinbaren Geheimnisse können in den Begriff aufgehoben werden: Essentialismus.

Alles ist Natur“ besagt (2): Die Natur läßt sich nicht analysieren; sie ist ein ganzheitlicher Zusammenhang, von dem menschliches Begreifen selbst nur ein Teil ist. Alles ist ein undurchdringlicher Prozeß. Wenn wir Sätze und Theorien bilden, schneiden wir aus diesem Ganzen nur willkürlich irgendwelche Teile heraus – zu rein pragmatischen Zwecken. Wahrheit ist Illusion: Holismus.

Der Essentialismus ist in gewisser Weise das Grundparadigma des neuzeitlichen Denkens. Er treibt aber immer wieder seinen Gegensatz hervor: als die skeptischere und reflektiertere Variante desselben Naturalisierungsprogramms.

Um diese Skizze des Naturalismus zu begründen und die Unhaltbarkeit beider Spielarten nachzuweisen, sind wir an verschiedenen Stellen in den Gedankenkreis eingestiegen:

7.1                    Im Spiegel der modernen Physik

Im ersten Hauptteil ging es um die Frage, ob sich essentialistische und holistische Ansätze auch in der modernen Physik bzw. ihrer naturphilosophischen Deutung finden lassen und wie sie gegebenenfalls aussehen. Dabei haben wir uns auf die Deutung von Raum und Zeit beschränkt. Wir unterschieden einen essentiellen und einen existentiellen Aspekt beider. Uns schien dabei evident zu sein, daß der von uns sogenannte essentielle Aspekt von Raum und Zeit der mathematischen Formalisierung das tragende Fundament gibt, während der existentielle Aspekt sozusagen die Semantik der formalen Struktur trägt: In der Relativitätsphysik, die vorwiegend Abbildungs- oder Transformationsverhältnisse betrachtet, ist die Bezugnahme auf existentielle Größen nur noch indirekt greifbar, da die Transformationen lediglich zwischen essentiellen Größen bestehen – so wie man Währungsumrechnungstabellen aufstellen kann, ohne daran zu denken, was man denn mit einer Mark wirklich kaufen kann. Insbesondere der Nachweis, daß die Zeit in gewisser Weise dem Raum verwandt ist, schien der essentialistischen Betrachtungsweise der Natur die endgültige Bestätigung zu geben. Denn während man bisher in der Physik davon ausgehen mußte, daß die Zeit ein exzeptioneller Parameter ist, nach dem alle die Geschehnisse repräsentierenden Differentialgleichungen abzuleiten sind, der aber selber nicht ableitbar ist und darum anscheinend einen untilgbaren Hinweis auf letzte unverfügbare Existenzbedingungen darstellt, konnte man jetzt darauf vertrauen, daß die raumartige Zeit endgültig in den Begriff aufgehoben werden konnte. Das Programm des essentialistischen Naturalismus schien vollendet zu sein.

Und doch war das Gegenteil der Fall: Eine gründliche Analyse der Relativitätsphysik und besonders der Allgemeinen Relativitätstheorie zeigt, daß nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum selbst unaufhebbare existentielle Komponenten besitzt. Die Raumzeit selbst hat sich als ein physikalischer Gegenstand erwiesen, „der Wirkungen ausübt und erleidet“.[2] Sie besitzt einerseits ein Wesen, das mathematisch bestimmt werden kann, hat aber zugleich eine Individualität und Kontingenz, die a priori nicht abzuleiten sind. Es sind die existierenden Massen, welche den Krümmungs­tensor bestimmen, der die Struktur der Raumzeit konkretisiert. In der existentiellen Betrachtungsweise der Kosmologie erscheint die Raumzeit als selbst entstanden, werdend (expandierend), strukturiert (durch Massenballungen) und vermutlich irgendwann vergehend. Raum und Zeit sind somit sowohl essen­tiell beschreibbare Größen als auch die fundamentalen Existenzparameter für die übrigen physikalischen Größen. „Die Allgemeine Relativitätstheorie hat den kinematischen durch einen dynamischen Bewegungsbegriff ersetzt.“[3] Dabei entspricht die Kinematik dem essentiellen Aspekt, während die Dynamik Anzeige auf unaufhebbare existentielle Momente gibt.

Es ist allerdings erstaunlich, daß sich Raum und Zeit sogar in ihrer kontingenten Gestalt mathematisch beschreiben lassen. Wir können diesen Umstand von der Wesenhaftigkeit deuten, die anscheinend alles geschaffene Sein durchwaltet. Aber es wäre ein Wahn, von reinen Begriffen ausgehend – in diesem Fall von mathematischen Ideen – das Wirkliche zu deduzieren.

7.1.1                   Der Fehler des ontologischen Gottesbeweises

Dieser Versuch ähnelt dem verführerischen Gedanken, das Dasein Gottes aus unserem (endlichen) Begriff von Gott zu erschließen. Die Idee dessen, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann und in dessen Wesen mithin das Existieren eingeschlossen sein muß, scheint überhaupt als einzige zu einer solchen Deduktion geeignet zu sein. Und dennoch ist der ontologische Gottesbeweis ein Fehlschluß, weil er voraussetzt, was er zu beweisen vorgibt: die reale Möglichkeit von Dasein überhaupt.

Dagegen kann nicht eingewandt werden, daß wir das Dasein doch jederzeit erfahren. Ja, wir erfahren es, aber wir können es nicht deduzieren. Vom Begriff aus, der von der Existenz abstrahiert, gibt es keinen Weg zurück zur Existenz, sondern nur noch zur Möglichkeit. Zwar ist es richtig, daß in Gottes Wesen sein Dasein eingeschlossen ist, aber unsere Idee von Gott ist nicht eo ipso getreues Abbild seines Wesens. Zuerst also wäre zu zeigen, daß das, was wir in der Idee denken, real möglich ist.[4] Und zweitens bliebe dann noch die Aufgabe nachzuweisen, daß und gegebenenfalls wie das real Mögliche zum Dasein kommt.

Im Falle Gottes als des Wesens, das „aus sich selbst (real) möglich ist“, mag der zweite Nachweis überflüssig sein, weil alles, was nicht aus sich selbst ist, auch nicht aus sich selbst möglich sein kann, was den Umkehrschluß erlaubt: Was aus sich selbst (real) möglich ist, existiert notwendig.[5]

Im Falle der abstrakten Weltformel hingegen gibt es keinen derartigen Schluß, denn in dieser Idee denken wir keineswegs ein durch sich selbst mögliches Wesen, sondern präsumieren lediglich die begriffliche Einheit des physikalischen Erscheinungszusammenhangs. Aus einer solchen idealen Einheit läßt sich indessen die Existenz nicht herausklauben. Hätten wir nicht jederzeit eine Erfahrung des Daseins, die anderer Art ist als die begriffliche und mathematische Erkenntnis, dann wäre jede Formel, auch die gedanklich vorweggenommene Weltformel, eine leere Gedankenspielerei ohne semantischen Bezug.

7.1.2                  Der Traum der absoluten Essentialisierbarkeit

Freilich scheint der semantische Bezug auf den ersten Blick unproblematisch zu sein: Haben wir erst einmal aus der experimentellen Erschließung der Wirklichkeit ihre essentiellen Gehalte abstrahiert, dann können wir, so scheint es, die oben genannten Bedenken ignorieren und jederzeit zur Prognose zukünftiger Wirklichkeit übergehen, also auf die Existenz zurückschließen. Denn im Alltag, mehr noch aber in der klassischen Physik kann man mit Erfolg zukünftige Ereignisse voraussagen. Wir wissen, daß der Stein nach unten fallen wird, wir kennen sogar den genauen Verlauf seiner Bahn, d.h. seinen Ort zu jeder Zeit. Aufgrund dieser Möglichkeit der Prognose scheint es also doch möglich zu sein, mittels begrifflicher (mathematischer) Gehalte (bzw. gesetzesartiger Funktionszusammenhänge) auf Existierendes zu schließen, vorausgesetzt, wir kennen zu einem Zeitpunkt der Wirklichkeit die Ausgangsbedingungen.

Dazu stellt man sich im Gedankenexperiment vor, daß zu irgendeinem Zeitpunkt alle physikalisch relevanten Zustandsgrößen (z.B. die Orte und Impulse aller Teilchen) bekannt seien: dann sollte man aus dieser (zugegebenermaßen sehr komplexen) Informationsfülle sämtliche Zustände zu beliebiger Zeit berechnen können. Dieses Gedankenexperiment scheint vor allem auch dazu geeignet zu sein, die absoluten (Existenz anzeigenden) Indizes am Parameter t (t1, t2 usw.) der Zeit loszuwerden, die das essentialistische Bild stören: die Zeit ließe sich dann wie eine geometrische und damit auch relative Größe behandeln und so essentialistisch eliminieren.

Das Programm von Leibniz scheint auf diese Weise zu Ende geführt zu sein. Der von Kant dagegen erhobene Einspruch, allein die Anschauung gebe einen ursprünglichen und irreduziblen Zugang zur Wirklichkeit, hat nun anscheinend endgültig den Boden der Ernsthaftigkeit verloren. Als theologisches Pendant gesellte sich alsbald zu dieser Überzeugung der Deismus, wonach Gott zwar irgendwann das Uhrwerk der Welt (etwa im sog. Urknall) ins Dasein gesetzt habe, sich aber dann gleichsam in seine Transzendenz zurückziehen konnte, weil nun ja alle weitere Entwicklung der zeitlichen Wirklichkeit schon da war: die (geschaffene) Essenz sollte ihre Existenz enthalten.

Wir nennen diesen geistesgeschichtlich außerordentlich bedeutsamen Gedankenschritt „Essentialisierung“. Wenn Heidegger von der Seinsvergessenheit sprach, die das abendländische Denken in die „Irre“ geführt habe[6], dann hat er sicher den wunden Punkt getroffen und darüber hinaus auch gesehen, daß die beklagte Position mit einem eingeengten Begriff der Zeit zusammenhängt, nämlich der „essentialisierten“ bzw. parametrisierten und schließlich geometrisierten Zeit. Im Vortrag „Die Zeit des Weltbildes“ schreibt er: „Das Vorgehen muß daher das Veränderliche in seiner Veränderung vorstellen, zum Stehen bringen und gleichwohl die Bewegung eine Bewegung sein lassen... Das Beständige der Veränderung in der Notwendigkeit ihres Verlaufs ist das Gesetz.“[7] Heideggers Kritik an dieser Weise, die Zeit zum Stehen zu bringen und so „die Welt als Bild“ zu fixieren[8], lebt von der Einsicht, daß (endliche) Existenz nur radikal zeitlich zu verstehen ist, was u.a. bedeutet, daß in der Gegenwart die Zukunft nicht enthalten ist. Doch wie beweist man dem Zeitvergessenen, daß die essentialisierte Zeit nicht schon die „ganze“ Zeit ist? Es wäre unkritisch, sich einfach nur in „nicht haltbare philosophische Defensivpositionen“[9] zurückzuziehen.

7.1.3                  Das Ende des Traums

Die in der quantitativen Essentialisierung am weitesten fortgeschrittene Wissenschaft mußte indessen selbst von der rein essentiellen Zeitauffassung Abschied nehmen: Die Quantentheorie zeigt, daß Zustandsänderungen diskontinuierlich erfolgen, obwohl der Zustandsraum als der Raum der möglichen Zustände selbst ein Kontinuum darstellt, also mit den bewährten mathematischen Methoden beschrieben werden kann. Die häufig als „Kollaps der Wellenfunktion“ bezeichnete diskontinuierliche Zustandsänderung ist als Entscheidung einer Alternative zu deuten: Aus der Mannigfaltigkeit möglicher Zustände, die sich wellenartig überlagern, wird genau einer wirklich, ein kontingentes Faktum.

Da unentschiedene und entschiedene Alternativen sich wesentlich unterscheiden, insbesondere dadurch, daß sie einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitslogik unterliegen, ist die Vergangenheit als der Inbegriff der entschiedenen Alternativen (Fakten) von der Zukunft als dem Inbegriff des noch nicht Entschiedenen in unaufhebbarer Weise unterschieden. Damit hat der existentielle Aspekt der Zeit erstmalig eine physikalische Relevanz gewonnen, die er bis dahin nicht hatte.

Daß überhaupt kontingente, d.h. nicht schon vorentschiedene Alternativen real möglich sind, hat seinen Grund in der Unbestimmtheit des Präsentischen. Das Gegenwärtige läßt sich gar nicht in der Weise fest-stellen, wie es der klassischen Physik immer als selbstverständlich erschien. Dadurch wird deren Objektivitätsideal eingeschränkt: Bei jeder Bestimmung eines Zustands bleiben gewisse Größen unbestimmt, d.h. für alternative Werte offen. Diese Unbestimmtheit ist selbst als objektiv anzusehen und keineswegs bloßes Nichtwissen. Quantitativ ist dieser Spielraum durch die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrela­tion gegeben. Eine wichtige Folge besteht darin, daß die Quantenobjekte auf keine objektivierbare Bahn festzulegen sind; denn dazu müßten im Gegensatz zur Unbestimmtheitsrelation Ort und Impuls zu jedem Zeitpunkt objektiv bestimmt sein.

Die angedeuteten Konsequenzen scheinen nun umgekehrt den essentiellen Gesetzen die Grundlage zu rauben: Einerseits macht die Natur Sprünge, die sich dem festhaltenden Begriff entwinden, andererseits kennt sie korrelierte Zustände, die eine Bezugnahme auf individuell getrennte Teilobjekte verhindern. Das EPR-Paradoxon gibt ein Beispiel dafür, wie räumlich anscheinend getrennte Objekte in Wahrheit ein einziges Objekt sind. Sollte die Natur nun nachgerade in der Weise unanalysierbar und undurchdringlich sein, wie es der Holismus behauptet?

Der Kreisgang ist nicht abgeschlossen. Die Diskussion der natur­philo­so­phisch relevanten Ergebnisse der modernen Physik zeigt uns Grundaspekte auf, die dem Denker eine gewisse Freiheit gewähren, die Phänomene von verschiedener Grundlage aus zu interpretieren. Bevor wir versuchen, das Verhältnis dieser Betrachtungsweisen noch eingehender zu bestimmen, sammeln wir die wichtigsten Ergebnisse unserer Problemanalyse in theologischer Perspektive ein.

7.2                   Im Spiegel philosophisch-theologischer Entwürfe

In der Einleitung haben wir die ersten Vertreter essentialistischer und holistischer Denkweisen ausgemacht: Parmenides und Heraklit. Platon und mehr noch Aristoteles haben einen mittleren Weg gesucht, eine Synthese. Die Synthese sollte die Wirklichkeit als partiell begreiflich, partiell unbegreiflich herausstellen. Platon schien dem christlichen Begriff des Geheimnisses näher zu sein, aber bei ihm findet man keine überzeugende Deutung des zeitlichen Werdens. Aristoteles versucht, diesen Mangel auszugleichen. Fundamental ist seine Analyse der Bewegung mittels der Begriffspaare von Substanz und Akzidens, Potenz und Akt.

Doch die aristotelische Physik und Metaphysik war nicht endgültig abgesichert gegen essentialistische und holistische Weiterführungen. Die essentialistische Gefahr wurde offenkundig im Aufkommen des Averroismus, die holistische Gefährdung zeigte sich erst später in nominalistischen Entwürfen.

Die Theologen der Hochscholastik empfanden eine tiefe Affinität der Naturphilosophie und Metaphysik des Aristoteles zum christlichen Weltbild, weil dieses Denken die Schöpfung ernstnahm. Für Thomas von Aquin war insbesondere die Deutung der unsterblichen Seele als Form des Leibes ein unverzichtbares Denkmittel, um die substantielle Einheit des Menschen zu verstehen. Aber er stand vor der schwierigen Aufgabe, die aristotelische Synthese gegen eine naheliegende Deutung abzusichern, welche die Individualität und Pluralität allein durch die Materie bedingt ansah und infolgedessen den Geist als in allen Menschen identisch einen betrachtete.

Noch schwieriger schien es, die Freiheit des Menschen denkerisch festzuhalten angesichts des triumphalen Erfolgs der von Aristoteles ermöglichten Naturforschung. Die simple Wiederholung der aristotelischen Auffassung von der Kontingenz als akzidenteller Unterbrechung des notwendigen Zusammenhangs und insofern als bloßer Defizienz konnte auf Dauer nicht mehr plausibel erscheinen. Hatte Thomas in dieser Hinsicht einem essentialistischen Denken wenig entgegenzusetzen, so konnte in anderer Hinsicht seine Metaphysik der Substanz nominalistischen Auflösungs­tendenzen nur schwachen Widerstand leisten: Die strenge, sowohl anti-essentialistisch als auch anti-holistisch gemeinte Betonung der Einheit der (individuellen) substantiellen Form mit der zugehörigen Ablehnung jeder essentiellen Pluralität innerhalb des komplexen endlichen Wesens bot einen Angriffspunkt für die radikale These Ockhams, unsere Begriffe, also auch die Artbegriffe hätten kein Fundament in den Dingen, sondern seien wie z.B. die Gattungsbegriffe bloß subjektive Weisen, wie sich der Verstand des Wirklichen bemächtige (modi significandi), ohne es indessen treffen zu können. Wenn sich aber das Wirkliche der distinkten Erkenntnis schlechterdings entzieht, dann verlieren auch metaphysisch-ethische Abgrenzungen jede Begründbarkeit: Die Unterscheidung der Arten und ihre Einteilung gemäß verschiedener Vollkommenheit, vor allem die irreduzible Sonderstellung des Menschen mögen dann noch thetisch behauptet werden, können jedoch in einer evolutionistischen Gesamtsicht nicht mehr plausibel gemacht werden.

Selbstverständlich haben sowohl Thomas von Aquin als auch Wilhelm von Ockham aus ihrer christlichen Haltung heraus das Gegenteil der angedeuteten holistischen Auffassungen vertreten. Sie konnten das, weil sie auf den aristotelischen Substanzbegriff vertrauten, der ganz zweifellos schon von der ursprünglichen Absicht seiner Einführung her antiholistisch konzipiert war. Worauf es uns indessen ankommt, ist die Frage, wie diese Urintention weiterhin begründet festgehalten werden kann angesichts der stets drängenden Doppelgefahr von seiten essentialistischer wie holistischer Antithesen. Diese kommen nämlich darin überein, daß sie den Unterschied von Substanz und Akzidens wieder aufheben: der Essentialismus durch den (Leibnizschen) Gedanken des Individualbegriffs, der Holismus durch den Rückzug in den Konventionalismus, für den die Erscheinungen (Akzidentien) beliebig bestimmt und geordnet werden können, weil sie letztlich nur der ständig wechselnde Ausdruck einer undurchdringlichen, indistinkten Ganzheit sind.

An diesem Punkt erschien uns die theologisch inspirierte Metaphysik des Johannes Duns Scotus als wegweisende Vertiefung des aristotelischen Erbes. Daß dieser Theologe der Wegbereiter des rationalistischen Denkens sei, wie manchmal behauptet wird, weil er z.B. die analoge Auffassung des Seins durch eine univoke ersetzt habe, können wir nach unserer Analyse seiner Werke nicht bestätigen. Freilich, wer in der univocatio entis entdecken will, daß hier ein Mehrwissen gegenüber der analogia entis beansprucht wird, der wird diese Lehre mit Recht zurückweisen. Indessen wäre damit ein Verständnis der scotischen Lehre von vornherein abgeschnitten, und ihre noch immer nicht ausgelotete Fruchtbarkeit käme nicht zum Vorschein.

Wir haben am Beispiel der distinctio formalis versucht, die Stärke und Schwäche seines Denkens zu erproben. Diese Distinktion hängt natürlich aufs engste mit der Univozitätslehre zusammen und ist nur deren konsequente Weiterführung. Wir erkannten ihre metaphysische wie erkenntnistheoretische Bedeutung darin, daß sie die thomasische Abstraktionslehre einschließlich ihrer Rede vom „fundamentum in re“ der Begriffe zu begründen und so den Einsprüchen nominalistischer Sprachkritik zuvorzukommen in der Lage ist. Deren scheinbare Berechtigung erweist sich nämlich bei kritischer Sondierung als täuschend, weil sie zwei voneinander unabhängige Thesen vermischt, eine triviale und eine dogmatische. Die triviale These beherrscht einen Großteil der semantischen Untersuchungen Ockhams wie auch moderner analytischer Sprachlogiker und kann kurz wie folgt zusammengefaßt werden: Sofern Prädikate rein extensional definiert sind, können sie problemlos auf Gegenstände bezogen werden. Die dogmatische These indessen besteht in der Aufrichtung einer unaufhebbaren Dichotomie von Denken und Sein. Sie wird meistens stillschweigend vorausgesetzt und macht sich nur indirekt in der Schwierigkeit bemerkbar, zu erklären, woher die Prädikate denn ihren semantischen Bezug (ihre Extension) haben.

Es ist das große Verdienst des Duns Scotus, dieser dogmatischen Behauptung, die den Konventionalismus unausweichlich macht, mit seiner von Avicenna übernommenen und weiterentwickelten Lehre von der natura communis ein überzeugendes Konzept entgegengestellt zu haben, das die Dichotomie überwindet und die Möglichkeit der Wissenschaft und ihres Fortschritts zu erklären imstande ist. Im Lichte dieser Lehre betrachtet, wird der widersprüchliche Charakter naturalistischer Erkenntnistheorien offenkundig: Sofern diese nämlich beständig voraussetzen (müssen), daß die Natur kausalen Gesetzen untersteht, widersprechen sie ihrer nominalistischen Bestreitung von real Gemeinsamem in der radikal individuell gedachten Natur. Die einschränkungslose Auslagerung des Allgemeinen in den Bereich des Logischen erklärt in Wahrheit nichts mehr und kann nur als irrationaler Glaube gewertet werden, der seine vermeintliche Überzeugungskraft nur der Naturwissenschaft verdankt, deren Erfolg dann freilich selbst unverstehbar wird und wie eine mythische Offenbarung erscheinen muß.

Die distinctio formalis ermöglicht in Abwehr solcher Irrationalismen ein Verständnis der Begriffsbildung und der sachlichen Berechtigung, mit Begriffen auf Wirkliches Bezug zu nehmen. Ihr metaphysischer Kern besteht zunächst darin, daß sie den Differenzen, die im abstrahierenden (nicht diskursiven) Auffassen von wirklich Begegnendem aufscheinen, z.B. zwischen Art und Gattung, ein Fundament in der Sache zuordnet: Ein wirkliches Ding kann als Hund oder als Lebewesen aufgefaßt werden, und das ist so, weil es auch innerlich gegliedert ist. Dieser sog. noetisch-noematische Parallelismus erlaubt freilich nicht den Umkehrschluß, daß allen begrifflichen Differenzen solche in der Sache korrespondieren, denn er ist streng begrenzt auf die Akte einfacher Auffassung des real Gegebenen. Hinsichtlich der Frage, wann ein geistiger Auffassungsakt strikt einfach ist, so daß er tatsächlich einen vorliegenden Gehalt in dessen unteilbarer Ganzheit nur ganz oder gar nicht erreicht, sind weit größere Restriktionen nötig, als eine unkritische Lektüre der einschlägigen Texte erwarten läßt. So wäre es natürlich widersinnig, einem erst innerhalb einer Theorie verständlichen (konventionellen) Begriff ohne weiteres einen einfachen formalen Gehalt in der Sache zuzuordnen, z.B. „Computer“ oder „Elektron“. Das gilt auch schon für alltägliche Begriffe wie „Buch“ oder „Straße“. Die konventionelle Freiheit, solche Begriffe bilden und umzubilden zu können, zeigt nur, daß sie nicht strikt einfach sind, weist aber zurück auf letzte irreduzible Qualitäten, die schon aufgefaßt sein müssen, damit die Aufstellung von (einfachen oder komplexen) Theorien überhaupt möglich ist.

Eine nähere Auseinandersetzung mit solcherart Fragen weist über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Wenden wir uns darum dem zweiten und in gewisser Weise noch wichtigeren Aspekt der distinctio formalis zu. Fragt man nämlich, wie sich die formale zur realen Unterscheidung verhält, wird man zu einer Einsicht geführt, die das gesamte scotische Denken durchzieht und von höchster aktueller Relevanz ist, weil hier die Abgrenzung gegen den Essentialismus vollzogen wird. Erinnern wir uns: Das essentialistische Denken ist dadurch charakterisiert, daß es das Wirkliche als vollständig begrifflich repräsentierbar betrachtet. Die Welt soll „als Bild“ fixiert werden können.[10]

Hier widerspricht Duns Scotus energisch, indem er feststellt, daß alles washeitlich-Begriffliche prinzipiell kommunikabel ist, während die wirklichen Dinge schlechthin inkommunikabel sind. Die begriffliche (formale) Einheit taugt somit nicht dazu, die individuelle (numerische) Einheit zu umschließen; sie wird vielmehr von dieser umschlossen. Wesenhaftes ist noch indifferent, erst Existierendes ist different. Die hier in den Blick tretende Differenz des individuell Wirklichen ist prinzipiell anderer Art als die spezifische Differenz, die dem Begriff gemäß ist. Sie kann nur noch negativ und indirekt ausgesagt werden, etwa als „haecceitas“. Dabei zielt die Negation auf eine positive Entität, die indes dem Begreifen verschlossen ist.

Während Thomas von Aquin die individuelle Einheit auf die außerwesentliche Materie zurückgeführt hat, die selbst nur einen defizienten Seinsmodus besitzen soll, begreift Scotus sie kühn als ein durchgängiges (transzendentales) Seinsprinzip positiver Art, d.h. als Vollkommenheit. Abgesehen davon, daß nun die Materie als Schöpfungsprodukt ernst genommen werden kann, wird die Individualität von der Bindung an das materielle Werdesein befreit. Erstmals in der Geschichte der Aristotelesdeutung wird konsequent Schluß gemacht mit dem griechischen Fundamentaldogma, alles wahrhaft Seiende (das zeitlich Materielle gehört mithin nicht dazu) lasse sich mit dem Begriff fassen und prinzipiell in ein wissenschaftliches System einordnen. Die fundamentale Umwertung betrifft die Erkenntnislehre wie die Metaphysik.

Erkenntnistheoretisch wird die Vorherrschaft der begrifflichen Erkenntnis durch den Primat der (intellektuellen) Anschauung abgelöst: Nicht das, was sich beweisen läßt, hat als vollkommenes Wissen zu gelten, sondern das, was in der Anschauung gegeben ist. Das Existentielle ist durch keinen Begriff und durch kein Gesetz ableitbar, man kann es nur anschauen, aber deshalb ist es nicht abzuwerten, sondern im Gegenteil höher zu werten. Das gilt sowohl für das Ewige, insofern uns verheißen ist, Gott anzuschauen, nicht ihn zu begreifen, als auch für das Zeitliche, insofern endliche Geistwesen berufen sind, ihre Individualität in der Zeit frei zu äußern, welche Äußerung wiederum nur durch den lebendigen anschaulichen Kontakt zu erfahren ist und keineswegs schon im toten Begriff vorweggenommen werden kann.

Wir sind uns bewußt, hier einer breiten Auslegungstradition diametral zu widersprechen. Duns Scotus wird oft ein Essentialismus vorgeworfen, weil er das Endliche nicht vom Seinsakt, sondern vom Wesen her gedacht habe. Der Sache nach bewahrt Scotus indessen die Intentionen der thomistischen Lehre, insbesondere den Vorrang des Existentiellen vor dem Essentiellen. Er bringt diese Intentionen jedoch weitaus konsequenter zur Geltung, weil er allererst verständlich machen kann, wie beide Aspekte zusammengehören, sowohl erkenntnistheoretisch als auch metaphysisch. Denn die Rede vom Seinsakt bleibt jederzeit vage und quasi irrational; sie ist offen für alle möglichen Deutungen, insbesondere auch für erneute Einbrüche des Essentialismus wie des Holismus. Die vom Sein separabel gedachte Essenz wird nämlich aufgrund der distinctio realis gerade nicht zeitlich gedacht, sie bleibt eingebunden in das griechische Fundamentaldogma, das die alte parmenideische Seinslehre perpetuiert.[11] Erst der Seinsakt soll das Individuelle in der Zeit erklären. Das thomistische Modell kann die von ihm behauptete Zweiheit nicht wirklich verständlich machen und naturphilosophisch vermitteln; nur das Wesen bietet einen Anknüpfungspunkt für eine Beziehung zur Naturwissenschaft, nicht aber der Seinsakt. Da aber das Wesen in dieser Sicht von der Zeit nicht berührt wird, gibt es nur einen Anknüpfungspunkt für die klassische Physik und damit für einen stets latenten Determinismus.

Ganz anders ist es mit der scotischen Lehre von der nur formalen Differenz zwischen Wesen und haecceitas.[12] Wir zeigten ihre Bedeutung in zwei Schritten: 1. hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Relevanz, 2. in Bezug auf ihren naturphilosophischen Rang.

1. Erkenntnistheoretisch besteht die grundlegende und definitive Einsicht darin, daß der auf das Wesen gerichtete Begriff nur einen Teilaspekt des Ganzen erfaßt. Ein Individualbegriff ist eine contradictio in adiecto. Weiter unten werden wir zeigen, daß diese Einsicht identisch ist mit der quantentheoretischen Kritik der klassischen Physik. Vorläufig halten wir hier fest, daß Scotus mittels der distinctio formalis zweierlei zusammensehen kann: Die essentielle Seite aller wirklichen Dinge und Vorgänge einerseits und ihre notwendige Angewiesenheit auf Ergänzung durch ein außerwesentliches Prinzip andererseits, das selbstverständlich nicht direkt durch einen Begriff repräsentiert, sondern nur negativ-indirekt erschlossen und (möglicherweise) anschaulich erfaßt werden kann. Daß hier wirklich eine Einsicht vollzogen und nicht nur eine Behauptung aufgestellt wird, sieht man daran, daß eine begriffliche Repräsentation notwendig von der Existenz und den ihr zugehörenden Bedingungen absehen muß. Begreifen heißt: eine (existierende) Sache unter einem Begriff, als etwas zu begreifen; während die Sache selbst einmalig und inkommunikabel ist, ist der vermittelnde Begriff washeitlich und kommunikabel. Diese Differenz von Sache und Begriff ist unaufhebbar; sie entspricht der Differenz von Zeit und Zeitlosigkeit. Freilich kann in einem Begriff nicht nur das gewissermaßen statische Wesen eines Dings repräsentiert werden, sondern auch – und das ist wahrhaft erstaunlich – sein dynamisches Wesen, d.h. die in den Potenzen angelegte zeitliche Entfaltungsmöglichkeit. Hier liegt natürlich der Grund dafür, daß es überhaupt eine Wissenschaft von der Bewegung gibt. Bedingung der Möglichkeit hierfür ist die essentielle Struktur von (Raum und) Zeit selbst.

2. Duns Scotus selbst hat die außerwesentliche Differenz unter verschiedenem Aspekt gefaßt und entsprechend verschieden bezeichnet, quasi statisch anläßlich der Frage nach dem Individuationsprinzip und quasi dynamisch in seiner Freiheitslehre. Bevor wir beide Aspekte zusammenbringen und damit nur vollenden, was Scotus begonnen hat, erläutern wir seine naturphilosophisch bedeutsame Analyse der Dynamik:

7.2.1                  Der doppelte Begriff der Potenz

Die essentialistische Position läßt sich u.a. dadurch charakterisieren, daß sie die (zukünftige) Möglichkeit wie ein (schon entschiedenes) Faktum behandelt.[13] Wir müssen uns hier vor Augen führen, daß der aristotelische Potenzbegriff gegen eine solche Auffassung nicht immun ist, denn er denkt das Mögliche als dasjenige, das sich in einem zeitlichen Prozeß – nach in der Substanz angelegten aktiven und passiven Prinzipien – auf sein Ziel hin verwirklicht: Aus dem Samen entfaltet sich die Pflanze, aus dem Embryo wird das Tier oder der Mensch. Unrealisierte Möglichkeiten müssen als Abweichungen und Störungen gedeutet werden, sie sind keineswegs mit den realisierten Möglichkeiten gleichwertig.[14]

Wir haben schon gelegentlich angedeutet, daß Scotus mit seinem radikalen Freiheitsbegriff auch den aristotelischen Begriff von Möglichkeit bzw. Potenz modifiziert.[15] Genauer gesagt läßt Scotus den Begriff gelten, entwickelt aber eine weitere Bedeutung von „Möglichkeit“, die in seinem synchronen Kontingenzbegriff impliziert ist. Wir werden nun darlegen, inwiefern diese Modifikation die essentialistische Gleichbehandlung von Möglichkeit und Wirklichkeit prinzipiell verwehrt.

Die scotische Innovation ist in der Fachliteratur schon seit längerem bemerkt worden, wurde jedoch bisher vorrangig unter modallogischem Aspekt betrachtet, nämlich als Entdeckung der logischen Möglichkeit.[16] Die synchrone Möglichkeit zu gegensätzlichen Alternativen setze lediglich die Nichtwidersprüchlichkeit der alternativen Inhalte voraus; weitere Einschränkungen aufgrund realer Bedingungen seien nicht gegeben.[17] Solche Unabhängigkeit von realen Bedingungen ist allerdings nur der göttlichen Allmacht zu unterstellen und hat im Bereich endlicher Willenstätigkeit keinen diskutablen Wert.

Gewiß kann man sagen, daß Scotus mit der Einführung der nur auf das Widerspruchsprinzip verwiesenen göttlichen Allmacht erstmals die Spekulation über mögliche Welten begründet hat. Uns scheint indes diese Spekulation wenig fruchtbar zu sein, wenn sie aus dem metaphysischen und naturphilosophischen Rahmen gelöst wird, in dem sie einzig verständlich und sinnvoll ist.[18] Um die Freiheit Gottes gegen ein falsches Notwendigkeitsdenken zu verteidigen, bedurfte es der Einführung der possibilitas (oder potentia) logica.[19] In analoger Weise bedurfte die metaphysische Absicherung der menschlichen Willensfreiheit einer kritischen Neubestimmung des Begriffs der Potenz und der damit zusammenhängenden Vorstellung der zeitlichen Bewegung.

In der Einleitung haben wir darauf hingewiesen, daß Aristoteles das potentielle Sein eingeführt hatte, um dem herakliteischen Realismus hinsichtlich des ständigen Werdens gerecht zu werden, ohne die eleatische Seinsbetrachtung ganz über Bord werfen zu müssen. Die Rezeptionsgeschichte dieser Vermittlungsleistung hat indes das parmenideische Moment des Bewegungsbegriffs so stark hervortreten lassen, daß er keinen Raum für wirklich Neues mehr zuzulassen schien.

Der Neuansatz des Scotus besteht freilich nicht darin, daß er den aristotelischen Potenz-Begriff schlicht durch den logischen possibilitas-Begriff ersetzt hat. Eine völlige Streichung der essentiell (und final bestimmten) Potenz würde implizieren, daß der Bereich des Möglichen grenzenlos und damit chaotisch würde. Eine solche Sichtweise lag Scotus ebenso fern wie eine deterministische Rückführung des Möglichen auf das durch Naturgesetze Ermöglichte und Festgelegte. Daß er nicht den aristotelischen Möglichkeitsbegriff durch einen anderen ersetzen, sondern modifizieren wollte, entspricht seinem auch sonst zu beobachtenden Umgang mit aristotelischen Vorstellungen:

Am Beispiel der Individuationslehre konnten wir bis ins Detail verfolgen, wie Scotus um der Sache willen Ergänzungen der aristotelischen Lehre vorgenommen hat, um gerade durch sie die genuinen Absichten des Stagiriten besser zu begründen. Dort war es die Identität des Suppositums mit dem Wesen, die Scotus gut aristotelisch gegen deren platonistische Aufspaltung festhielt, aber durch die Formaldistinktion modifizieren mußte, um nicht dem Nominalismus Tür und Tor zu öffnen. Hier (in der Freiheits­frage) ist es die Lehre von den (aktiven) Potenzen mit ihren je eigenen kausalen Wirkweisen, die Scotus festhält und sogar weiter ausbaut, aber nun in ganz ähnlicher Weise modifizieren muß, um echte Kontingenz denken zu können: Die Modifikation besteht in ganz analoger Weise darin, daß die kausal wirkende Potenz nur das quiditative (oder essentielle) Moment des zeitlichen Prozesses bestimmt, während sie das individuelle und existentielle Moment unbestimmt läßt: Das zukünftige Existieren ist gegenüber dem aktuell gegenwärtigen Existenzmoment in keiner Potenz enthalten, sondern als lediglich logisch möglich zu bestimmen. Ob morgen die Sonne aufgeht, ob es überhaupt ein Morgen gibt, kann niemand wissen. Da es aber anderereits kein frei schwebendes Existierenkönnen gibt, sondern immer nur je individuell bestimmte Wesen und diese wiederum durch Potenzen im aristotelischen Sinn charakterisiert sind, können die beiden Möglichkeits­begriffe nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die zwei Momente des Möglichen, das essentielle und das existentielle Moment, sind nicht real getrennt, sondern im „Simul totum“ eines zeitlich verfaßten Wesens unitiv geeint, d.h. formal different.

Ein Text aus dem Metaphysikkommentar bestätigt unsere Interpretation. Dort antwortet Scotus auf ein platonistisch anmutendes Argument, das geltend macht, das zeitliche materielle Sein entziehe sich dem Wissen[20]:

„Um aber das Problem zu lösen – denn es wird zugestanden, daß das Vergängliche dem Gemeinsamen anders innewohnt als dem Singulären –, ist zu bemerken, daß die Potenz zum Vergehen oder zum Nichtsein, zweifach verstanden werden kann: einmal als entfernte Potenz, die eine gewisse Angemessenheit ist, welche der Natur im Sinne einer Eigentümlichkeit derselben folgt; und diese ist wißbar durch einen gemeinsamen Mittelbegriff und abstrahiert von der Existenz; andernfalls wäre es unmöglich, eine naturhafte Eigenschaft, die in gemeinsamer Weise mit dem Werden und Vergehen zusammengehört, von irgendeinem Ding zu wissen. Zum anderen gibt es eine nächste Potenz, die [zu verstehen] ist als die unmittelbare Hinordnung auf den Akt in einem eigentlichen und nächsten solchen, das den Akt empfängt. Nun wohnt aber der Akt nur dem ‚Simul totum‘ inne; dieses schließt nicht nur die singuläre Natur ein, ... sondern fügt darüber hinaus die Existenz hinzu;  was aber auf die Existenz folgt, das gehört allgemein nicht zum Wesen und ist auch in den Geschöpfen nicht wißbar. Darum ist diese Potenz nicht wißbar; und die Materie, sofern sie Prinzip dieser Potenz ist, ist nicht Teil des Wesens. Denn, so betrachtet, schließt die Materie sowohl die Individuation als auch die Existenz ein; als Teil der Art betrachtet, hingegen schließt die Materie keines von beiden ein, sondern abstrahiert von beidem.“[21]

Was Scotus hier sagt, ist zunächst nur die Anwendung seiner durchgängigen Lehre, daß die begriffliche Erkenntnis von der Existenz und allem, was damit zusammenhängt, notwendig absieht. Die Anwendung auf den Potenzbegriff ist deshalb so interessant, weil sie den entscheidenden Hinweis gibt, in welchen naturphilosophischen Rahmen der blasse Begriff der „logischen Möglichkeit“ zu stellen ist. Scotus verwendet diesen Begriff hier gar nicht, sondern spricht von der „potentia propinqua, quae est ordo immediatus ad actum in proprio et proximo receptivo actus“. Das berechtigt uns dazu, die Unterscheidung des Potenzbegriffs im folgenden durch das Begriffspaar essentiell – existentiell auszudrücken. Der Rede von der „logischen Möglichkeit“ fehlt noch der Terminus ad quem, auf was die Möglichkeit denn hingerichtet ist, nämlich das Existieren. Während die „potentia remota“ zeitlich geordnete Wesenszusammenhänge zum Ausdruck bringt („aptitudo consequens naturam“ – „pertinens ad generationem vel corruptionem“), sagt die „potentia propinqua“ die existentielle Möglichkeit der Zukunft aus; diese ist aber nur „logisch“ möglich – denn niemand kann aus der Vergangenheit ableiten, ob sie auch real verwirklicht wird. Die essentielle Möglichkeit kann wissenschaftlich erforscht werden, die existentielle Möglichkeit bleibt ungewiß.

7.2.2                  Der neue Zeitbegriff

Nun können wir einen Schritt weitergehen und den daraus folgenden Zeitbegriff erheben: Der essentiellen Potenz entspricht die Zeit, soweit sie parametrisierbar ist, so daß Vorgänge in der Zeit gesetzesartig beschrieben werden können – was die neuzeitliche Physik durch das mathematische Instrument der Differentialgleichung nach der Zeit tut. Der existentiellen Potenz entspricht die Zeit, soweit sie tatsächlich da ist und erfahren wird – als verfließende und sich aus der noch ausstehenden (nicht existierenden) Zukunft je neu eröffnende. Es ist natürlich nur eine Zeit, der beide Aspekte eignen.

Die Parameterzeit der klassischen Physik ist deterministisch, weil sie der Faktor ist, nach dem (hypothetisch) notwendige Geschehenszusammenhänge abgeleitet werden können. Was die Physik jedoch übersehen hat, ist die Abstraktion, die in solcher Wesensbetrachtung immer schon erfolgt ist: das essentielle Gesetz beschreibt nur Möglichkeiten und ist kein gänzlich adäquates Bild der Wirklichkeit. Wenn nun aber der Begriff der Möglichkeit zu Recht differenziert wurde, fragt sich also: Welcher Art ist die Möglichkeit, die in den mathematisch-physikalischen Gleichungen zum Ausdruck kommt? Was ist ihr terminus ad quem? Offensichtlich steckt im Begriff der Möglichkeit bereits die Zweiheit der Aspekte: Ihr terminus a quo ist das System, sofern es physikalisch bestimmt werden kann, d.h. der reine essentielle Gehalt, verstanden als Möglichkeit. Ihr terminus ad quem hingegen ist nicht wieder eine essentielle Möglichkeit, sondern eine existentielle Wirklichkeit.

Dies bedarf freilich einer Erläuterung. Zum Zwecke der besseren Übersicht wählen wir folgende terminologische Differenzierung: Der Begriff hat zwei Anwendungsmöglichkeiten, eine quasi statische und eine quasi dynamische. Unter Begriff „im engeren Sinne“ verstehen wir im folgenden den quasi statischen Begriff eines Dings, z.B. des Menschen. Den quasi dynamischen Begriff nennen wir im folgenden „Gesetz“; das Gesetz ist folglich ein Begriff, der die essentielle Dynamik eines Objekts repräsentiert. Begriff (im engeren Sinne) und Gesetz unterliegen derselben erkenntnistheoretischen Kritik: Sie erfassen beide nur den essentiellen Aspekt einer Sache bzw. eines Geschehens. Das ist gleichbedeutend mit der Aussage: Sie erfassen nur deren Möglichkeit. Diese Möglichkeit aber ist stets indifferent zur Verwirklichung. Im Falle des Begriffs (im engeren Sinne) äußert sich die Indifferenz darin, daß ein begriffener Gehalt beliebig oft exemplifiziert (individualisiert) werden kann; im Falle des Gesetzes besteht die Indifferenz darin, daß die begriffene Möglichkeit stets Alternativen eröffnet und die Entscheidung nicht vorwegnimmt, weil Möglichkeit als solche ja gerade nur die mögliche Wirklichkeit besagt.

Duns Scotus hat die Möglichkeit, die der quasi statische Begriff begreift, mit Avicenna als natura communis bezeichnet. Das real Gemeinsame ist indifferent zu verschiedenen individuellen Trägern der Natur. Die Differenz ist außerwesentlich und wird als haecceitas bezeichnet. Von hier aus ist es kein schwieriger Schritt, die Möglichkeit, die der quasi dynamische Gesetzesbegriff erfaßt, analog zu bestimmen: Sie ist wie die quasi statische natura communis indifferent zu verschiedenen Verwirklichungsweisen, die Alternativen genannt werden. Das Gesetz ist somit nichts anderes als die Aufstellung von Alternativen, und zwar von essentiell (zumeist quantitativ) bestimmten Möglichkeiten (d.h. Wahrscheinlichkeiten), gemäß einer zeitlichen Entwicklungsstruktur.

Wir stehen hier an dem Punkt, an dem sich die Gedankengänge der beiden Hauptteile begegnen. Ein erneuter Durchgang ist angezeigt.

7.3                   Der Gewinn für die Physik

7.3.1                  Nochmalige Reflexion unseres Weges

Das Folgende kann als grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft gelesen werden; wir erörtern sozusagen die Prolegomena zu einem künftigen Dialog. Ein solcher verspricht wechselseitigen Gewinn. Wir beginnen mit dem Gewinn für die Naturwissenschaften.

Als sachlichen Ertrag der scotischen Individuations- und Freiheitslehre, die zusammengeschaut werden können, haben wir eine Kritik der Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlichen Wissens gewonnen, die den Vergleich mit der Kantischen Vernunftkritik nicht zu scheuen braucht. Ausgehend von der daraus folgenden scharfen Bestimmung des Gesetzes reflektieren wir die semantische Struktur eines typisch klassischen Gesetzes, z.B. einer Wellengleichung.  Diese beansprucht, die räumliche (und energetische) Gestalt einer Welle in ihren aufeinander folgenden zeitlichen Phasen unmittelbar zu repräsentieren. Hier soll eine eindeutige Zuordnung bestehen: Jedem einzelnen berechenbaren Amplitudenwert entspricht genau eine reale (meßbare) Größe. Diese Annahme wurde durch die erfolgreiche Anwendung auf das tatsächliche Verhalten scheinbar bestätigt. Aber sie ist, wie wir jetzt ohne weiteres sehen können, eine ungerechtfertigte Simplifizierung. Denn wenn jedes Gesetz ein Begriff ist und darum nur das Mögliche beschreibt, dann ist zu erwarten, daß das Gesetz eine Indifferenz zu verschiedenen Alternativen enthält, d.h. nur Wahrscheinlichkeiten zum Ausdruck bringt.

Diese Kritik ist sachlich identisch mit der Forderung der Quantisierung klassischer Theorien, d.h. der Abänderung der Semantik der physikalischen Begriffe, indem von differenten Wirklichkeitsbestimmungen zu indifferenten Möglichkeitsbestimmungen (Wahrscheinlichkeiten) überzugehen ist. Sie teilt indes mit der Quantentheorie das Erstaunen darüber, daß in den meisten Fällen die klassisch interpretierten Gesetze eine so gute Näherung darstellen, daß die Notwendigkeit einer Quantisierung gar nicht empfunden wird.

Um beides verstehen zu können, die gnoseologische Notwendigkeit einer Quantisierung und deren Entbehrlichkeit für viele Anwendungsfälle, greifen wir mit Niels Bohr auf das Konzept der Komplementarität zurück. Damit rechtfertigen wir sozusagen nachträglich (im erneuten Durchgang durch den hermeneutischen Zirkel) unsere intuitive Unterscheidung des essentiellen und des existentiellen Aspekts schon von Raum und Zeit und liefern den Nachweis der „semantischen Konsistenz“[22] dieses Doppelaspekts. Dabei wird die Bohrsche Forderung, die Messung klassisch (raumzeitlich) zu beschreiben, d.h. überhaupt die klassische Physik weiterhin benutzen zu müssen, durch den gegebenen essentiellen Aspekt von Raum und Zeit begründet, während die Notwendigkeit der Quantentheorie dem existentiellen Aspekt Rechnung trägt. In dieser Sichtweise wird unmittelbar deutlich, daß die Relativitäts- und die Quantentheorie selbst zueinander in komplementärem Verhältnis stehen, indem sie eine verschiedene semantische Struktur besitzen, wobei beide Strukturen aufeinander angewiesen bleiben. Ferner läßt sich zeigen, daß diese Doppelstruktur der komplementären Zusammengehörigkeit von Individuum und (gemeinsamer) Natur entspricht.

7.3.2                  Relativität und Essentialität

Bei der Diskussion des absoluten Raumes wurde deutlich, daß verschiedene Subjekte von ihren jeweiligen Wahrnehmungen nur dann zu objektiven, d.h. mitteilbaren Erfahrungen übergehen können, wenn sie gewisse Invarianzeigenschaften ausnutzen, die in der relativen Struktur der Raumzeit begründet sind. Wäre der Raum (und die Zeit) sozusagen rein absolut, dann wäre jedes Subjekt völlig singularisiert und zur Kommunikationslosigkeit verdammt. Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation ist die reale Essentialität der Wirklichkeit, welche im Falle von Raum und Zeit gerade durch deren Relativität gewährleistet ist. Da ferner schon die Aufstellung einer einzigen Alternative (z.B. in einer Frage) einen Begriff erfordert, dessen Gehalt muß wiedergefunden (re-identifiziert) werden können, soll die Alternative entscheidbar sein, ergibt sich als minimale Möglichkeitsbedingung eine Raumzeitstruktur, die das Wiederfinden von Begriffen ermöglicht. Wie Carl Friedrich von Weizsäcker gezeigt hat, erfüllt die Minkowski-Struktur der Raumzeit gerade diese Bedingung. Negativ gesagt: Wäre die Raum-Zeit-Struktur ohne diese Symmetrien, dann könnten wir nicht einmal die simpelste Wahrnehmung objektivieren.

Freilich kann dieser essentielle Aspekt einseitig betont werden, indem die relativistische Struktur kurzschlüssig als definitive Repräsentation der Wirklichkeit gedeutet wird. Dann werden alle existentiellen Größen als lediglich konventionell betrachtet. Wir haben diesen verführerischen Fehler anhand des Objektivitätsverständnisses diskutiert. Jetzt können wir ihn präziser bestimmen: Die konventionalistische Deutung der Relativitätstheorie versteht ihre eigene Semantik nicht. Sie behandelt die abstrahierten essentiellen Größen so, als wären sie schon etwas Wirkliches, sie konfundiert den relativen Erscheinungszusammenhang mit (absoluten) wirklichen Dingen, die erscheinen.

Semantisch richtig verstanden, bezieht sich die Relativitätstheorie auf die essentielle Struktur von Raum und Zeit. Da diese real ist, bildet die Theorie zwar nicht das existentielle Vergehen der Zeit und die Expansion des Raumes als solche ab, aber doch deren Möglichkeitsstruktur; d.h. sie bewahrt in ihrem Formalismus den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft und damit die Kausalität. Mathematisch zeigt sich dies darin, daß die Raumzeit pseudoeuklidisch ist, so daß eine Zeitspiegelung ausge­schlos­sen ist. Diese Asymmetrie läßt vermuten, daß die Relativitäts­theorie hin­sichtlich des Bezugs auf Raum und Zeit realistischer ist als die Quanten­theorie, die etwa in Gestalt der Elementarteilchentheorie umfassendere Sym­metrien zugrundelegt.

7.3.3                  Komplementarität

Das soeben Gesagte klingt freilich paradox: Nun soll die Quantentheorie weniger realistisch sein als die Relativitätstheorie? Wiederum kann nur eine Besinnung auf die jeweils zugrundeliegende Semantik die Antwort liefern und die komplementäre Betrachtungsweise aufhellen: Indem die nichtrelativistische Quantentheorie in ihrem Formalismus auch die Zeitumkehr erlaubt, löst sie sich völlig von der existentiellen Zeitstruktur ab. Das ist indes überhaupt nicht problematisch, weil die Quantentheorie völlig unverständlich wäre, wenn sie nicht zugleich als Erkenntniskritik betrachtet würde. Das heißt, anders als die Relativitätstheorie verzichtet sie darauf, sich unmittelbar auf Wirkliches zu beziehen, weil sie weiß, daß ihre Begriffe prinzipiell nur alternative Möglichkeiten bestimmen. In diesem Wissen ist freilich der existentielle Zeitaspekt jederzeit vorausgesetzt und kommt indirekt zum Vorschein, sobald der Unterschied von unentschiedenen (zukünftigen) und entschiedenen (vergangenen) Alternativen bedacht wird.

Relativitäts- und Quantentheorie sind so wegen ihrer verschiedenen semantischen Struktur unvereinbar, d.h. nicht zugleich in derselben Hinsicht anzuwenden. Es ist unmöglich, zwei verschiedene Aspekte gleichzeitig einzunehmen. Ich kann mich nur entweder auf das Existierende oder auf das Mögliche beziehen. Freilich sind beide Aspekte nötig, und es deutet sich sogar an, daß beide sich wechselseitig bedingen und einschränken.

Die Quantentheorie muß eingeschränkt werden durch die Forderung von wirklichen Ereignissen, welche nur klassisch beschrieben werden können, auch und gerade wenn deren Möglichkeit nur quantentheoretisch bestimmt werden kann. Daß Ereignisse nur klassisch beschrieben werden können, heißt nichts weiter, als daß es einen Zugang zum wirklichen Ereignis nur in der (klassisch semantischen) Bezugnahme auf real Gegebenes und eben nicht wieder nur Mögliches geben kann – eigentlich trivial. Der Verzicht auf solche Bezugnahme führt in den totalen Holismus, eine unwirkliche Welt miteinander verschränkter Möglichkeiten, eine Welt mit nur virtuellem Zeitverlauf, einer quasi präsentischen Zukünftigkeit ohne Vergangenheit. Hier mag eine Vermutung bezüglich des bisher nicht völlig geklärten Umstands erlaubt sein, daß die Invarianz der Naturgesetze gegenüber der Zeitspiegelung keine physikalisch relevante Erhaltungsgröße zur Folge hat: Das könnte doch einfach daran liegen, daß diese Invarianz nur im Raum des Denkens über Möglichkeiten besteht, nicht jedoch in der realen, zeitlich fortschreitenden Welt.

Die Relativitätstheorie muß eingeschränkt werden, weil sie das gegenwärtige Jetzt ignoriert und die Zukunft so betrachtet, als sei sie schon geschehen. Paradox ausgedrückt: Gerade weil sie die Möglichkeitsstruktur der existentiellen Zeit direkt repräsentiert, verliert sie ihr existentielles Fortschreiten aus dem Blick, das nur anschaulich erfahren werden kann oder allenfalls indirekt begrifflich zum Vorschein kommt, freilich nur in einer theoretischen Einstellung, die wie die Quantentheorie das Verhältnis von indifferentem Begriff und differenter Wirklichkeit reflektiert. Um das Bild von Duns Scotus aufzugreifen: Die Zeit verhält sich zur Ewigkeit nicht wie eine fertige Kreislinie zum Mittelpunkt, sondern wie ein Punkt, der kreisförmig um das Zentrum fortschreitet. Der Essentialismus der Relativitätstheorie führt zu einem seltsamen Paradox: Wenn die Zukunft wie die Vergangenheit als bereits entschieden betrachtet werden könnte, dann wären die alternativen Möglichkeiten, die unsere (quantentheoretischen) Begriffe aufspannen, bloße Fiktionen, indem sie Möglichkeiten behaupten, wo keine sind. Das aber hieße, daß die begriffliche Erkenntnis, von deren Berechtigung der Essentialismus ja seinen Ausgang nimmt, bloßer Schein wäre. Dann könnte allenfalls noch der allwissende Gott, der die verborgenen Parameter kennt, etwas wissen; wir Menschen wären hoffnungslos der Unwissenheit preisgegeben. Anders gesagt: Wenn die numerischen Differenzen der zeitlichen Welt begrifflich repräsentierbar wären, was z.B. mit der Leibnizschen Idee von Individualbegriffen behauptet wird, dann wären unsere endlichen Begriffe, die wesenhaft Indifferenz mit sich führen, nicht mehr tauglich, die völlig distinkt gedachte Welt zu repräsentieren. Hier schlägt ein weiteres Mal der Essentialismus in seinen holistischen Gegensatz um. Ihre konträren Behauptungen, die Wirklichkeit sei völlig different bzw. völlig indifferent, sind im Ergebnis gleich.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, das bisher nicht geklärte „Umschlagen“ der Extreme tiefer zu bedenken und damit das zu Anfang aufgestellte heuristische Paradigma zu übersteigen. Wir können nach Durchschreiten des Gedankenkreises jetzt deutlicher sehen, worin sich die Gegensätze von Essentialismus und Holismus ähnlich sind, inwiefern sie ineinander umschlagen können und weshalb wir sie zu Recht als die beiden Grundvarianten eines naturalistischen Denkens angesehen haben, sozusagen als zwei ungleiche Brüder. Sie beruhen nämlich beide auf einem „klassischen“ Denken, das komplementäre Aspekte nur isoliert betrachten kann. Wir können diese Behauptung von zwei Seiten her einsichtig machen, anhand der Komplementarität von individueller und begrifflicher Differenz und anhand des Unterschiedes von Vergangenheit und Zukunft. Essentialistisch nannten wir die Auffassung, wonach alle wirklichen Differenzen begrifflich repräsentierbar sind, womit zugleich die zeitliche Wirklichkeit auf die Vergangenheitsform festgelegt ist. Holistisch ist dagegen die konträre Annahme, daß den begrifflichen Differenzen keine solchen in der Wirklichkeit entsprechen, so daß die begriffliche Bezugnahme nur den Schein erzeugt, abgegrenzte Teile der Wirklichkeit zu treffen; unter dieser Voraussetzung kann es keine begreifbaren Fakten der Vergangenheit geben, sondern nur indifferente zukünftige Möglichkeiten. Beide Positionen sind auf den essentiellen Aspekt beschränkt, wenn auch von unterschiedlicher Perspektive: der Essentialismus in naiv optimistischer Weise, indem er die begrifflichen Differenzen als adäquate Abbilder der wirklichen Differenzen ansieht, der Holismus in skeptischer Weise, indem er die unaufhebbare Indifferenz begriffener Möglichkeiten gegenüber der Wirklichkeit durchschaut, aber vor dieser Indifferenz kapituliert. Die Perspektiven verschmelzen im Horizont des Unendlichen: Der vollständige Individualbegriff eines Leibniz vereinigt unendlich viele essentiel­le Bestimmungen und erfüllt so als essentiali­stische Konzeption zugleich die holistische These, daß nur die Gesamtheit aller Formen (geeint in der indistinkten Materie) das Wahre ist. Sowohl der Essentialismus als auch der Holismus ignorieren den existentiellen Aspekt, dessen Berücksichtigung beide Ansichten partiell einschränkt: Zum existentiellen Aspekt gehört das fließende Jetzt, das Vergangenheit und Zukunft trennt, indem unableitbar und ereignishaft indifferente Möglichkeiten ein für alle Mal entschieden werden. Präsentische Ereignisse sind deshalb durch Differenzen ausgezeichnet, die jenseits des washeitlich Begreifbaren liegen. Dasselbe gilt für individuelle Substanzen, vor allem Personen, deren zeitübergreifende Identität nicht durch eine essentielle Differenz konstituiert sein kann. Nur im Zusammenhalten komplementärer Aspekte können wir die begegnende Wirklichkeit verstehen: als Pluralität von essentiell bestimmten und sich dem fixierenden Begriff zugleich entziehenden, weil in der Zeit existierenden Individuen, deren zukünftige Akzidentien nur innerhalb eines vom Wesen eröffneten Möglichkeitsspielraums festgelegt sind und solange indifferent bleiben, bis sie ereignishaft entschieden werden. Der existentielle Aspekt ist der Grund für das Geheimnis, das der Naturalismus in seinen beiden Spielarten nicht anerkennt.

Was die Physik angeht, so scheint die komplementäre Ergänzung von Quantentheorie und Relativitätstheorie die äußerste Möglichkeit zu sein, das Sagbare zu sagen. Alles andere bleibt mit Begriffen unsagbar, Geheimnis, das auf die lebendige Anschauung verweist und zur Praxis herausfordert. Es ist Aufgabe der Theologie, Anleitung zu geben, wie wir uns dem Geheimnis gegenüber verhalten sollen.

7.4                   Die Relevanz der Physik für die Theologie

Das Geheimnis umgibt uns jeden Tag und von allen Seiten. Schon ein einfacher Erkenntnisakt bleibt letztlich in seiner Möglichkeit unbegreiflich, da er ein Vorgang in der Zeit ist und sich doch von der Verhaftung an die zeitliche Kausalität, auf die er verwiesen ist, distanziert. Noch viel unbegreiflicher ist die Liebe, weil ich nie werde verstehen können, warum ein anderer Mensch sich mir in Freiheit schenkt, und weil umgekehrt ich selber keinen naturhaften Grund dafür angeben kann, warum ich einem anderen Menschen nicht nur zugeneigt bin, sondern aus dieser Neigung heraus etwas Bestimmtes tue oder gegebenenfalls auch der Neigung widersprechend den anderen mißachte.

Die Theologie bringt zwar den Geheimnisbegriff hauptsächlich mit dem Dreifaltigen Gott selbst in Zusammenhang, aber sie tut gut daran, die Geheimnisse schon des Endlichen wahrzunehmen und als Spur oder sogar Bild des Unendlichen zu deuten. Andernfalls droht ihr eine Weltfremdheit, die auch ihrem Verkündigungsauftrag zuwiderläuft. Da zumal die fundamentalen Glaubensgeheimnisse damit zu tun haben, daß der Unsichtbare in die sichtbare Welt eingetreten ist, kann eine theologische Reflexion des Geheimnisses nicht das Sichtbare überspringen. „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“ (Joh 1,18) Die Kunde ist Selbstauslegung (ẻxegήsato) des Unbegreiflichen, und zwar „in Tat und Wort“ (gestis verbisque; DV n. 2).

Wie will man die Selbstmitteilung Gottes in ihrer das Sinnenhafte einschließenden Äußerungsweise verstehen und dem Zeitgenossen vermitteln, wenn man die Wissenschaften ignoriert, die eben diese Sinnenwelt zum Gegenstand haben? Ohne eine Kritik des naturalistischen Selbstmißverständnisses dieser Wissenschaften dürfte sich die Theologie einer wesentlichen Möglichkeit berauben.

Wir sehen den Gewinn solcher Einbeziehung der Physik darin, daß sich hier ein ganzes Forschungsprogramm für die Theologie eröffnet, da sich der Naturbegriff in kaum einem Zweig der Theologie vorschnell überspringen läßt. Dies sei abschließend nur an zwei Beispielen angedeutet:

1. Das physikalisch einzig angemessene Zeitverständnis stellt nicht einfach nur eine Naturzeit gegen die geisteswissenschaftlich relevante Geschichtszeit, sondern entspricht der schöpfungstheologischen Vorstellung, gemäß welcher Gott mit der sichtbaren Materie zugleich Raum und Zeit geschaffen hat. Die Vorstellung, daß außer dem Raum nochmals Raum, vor der Zeit nochmals Zeit ist, hat weder in der Physik noch in der Theologie einen Sinn, sie ist schlicht falsch. Die Gegenwart Gottes in Raum und Zeit ist eine überräumliche und überzeitliche. Gott blickt nicht auf eine tiefere Dimension hinunter, sondern ist durch seine unendliche Fülle dem gegenwärtig, was er aus dem Nichts heraus ins Dasein bringt. So kann uns die existentielle Dimension von Raum und Zeit durch die Physik wieder bewußter vor Augen gestellt werden, womit zugleich der Unsinn des Deismus offenkundig wird. Die theologische Rede von der creatio continua kann sinnvoll anknüpfen an die naturwissenschaftliche Forschung.

2. Noch wichtiger als diese unmittelbare Anwendung scheint uns zu sein, daß die Physik in der Quantentheorie eine Sichtweise anbietet, welche die theologisch inspirierte metaphysische Erkenntniskritik bestätigt, wonach der Mensch im Begriff nur einen Aspekt des Wirklichen fassen kann und deshalb jederzeit auf die lebendige Anschauung verwiesen bleibt. Physik und Metaphysik weisen dieselbe Struktur der Komplementarität auf, die selbst ein Ausdruck des Geheimnishaften schon in der Natur ist, die sich nicht in die schlichte Einheit eines Begriffssystems bringen läßt. Die geschaffene Welt und erst recht der Mensch sind weder ganz auf Naturbestimmungen zu reduzieren, noch sind sie absolut undurchdringliche Geheimnisse. Dem Menschen ist ein Wissen des Nichtwissens möglich, das auch weiß, warum es nicht weiß, und in gewisser Weise sogar weiß, was es nicht weiß. Auch hier sind die Extreme falsch: Weder ist es sachgerecht, zu sagen, der Mensch werde irgendwann alles wissen, noch, er wisse schlechthin nichts, denn im Modus des Vergessens des Grundes seines Nichtswissens schleicht sich schnell der titanische Drang, alles zu wissen, von neuem ein.

Wir haben diese Einsicht anhand der Theologie des Johannes Duns Scotus entwickelt. Seine distinctio formalis schien uns der Schlüssel zu sein. Freilich mußten wir diese Lehre von Fehldeutungen befreien, die ihr im Laufe der Rezeptionsgeschichte zugewachsen sind. Die Formaldistinktion dient Scotus nicht zuletzt dazu, das Geheimnis der Trinität auszusagen.[23] Während Ockham und Biel sie lediglich als sprachlogisches Mittel überneh­men, um die Nichtwidersprüchlichkeit des Trinitätsdogmas festzuhalten, ihr aber ansonsten keinen metaphysischen Wert beimessen, versteht Scotus sie als das Mittel, um das Verhältnis von Sein und Denken und die sagbare Struktur des Seins überhaupt angemessen zu bestimmen. In dieser Struktur wird nicht nur das Sagbare erklärt, sondern zugleich das Unsagbare eingesehen.

Freilich konnte in der Deutungsgeschichte immer wieder der Verdacht aufkommen, hier werde ad hoc konstruiert, d.h. wir hätten es mit einem System zu tun, das neben vielen anderen lediglich von historischem Interesse wäre. Die skeptische Haltung war indessen oft weniger sokratisch inspiriert als sie vorgab; ein geheimer Rationalismus lebte in ihr, der in der Behauptung völliger Unsagbarkeit das unsagbare Geheimnis selbst zerstörte, indem er lediglich das Spiel der Gedanken betrieb, die er nun nach Belieben konstruieren und dekonstruieren konnte.

Hier gibt nun die moderne Physik der Theologie in der Tat eine wesentliche Stütze: Sie weist den Vorwurf zurück, die von Scotus erkannte transzendentale Struktur unseres Denkens sei eine nicht weiter relevante ad-hoc-Konstruktion. Sie bestätigt seine Lehre von der natura communis auf ungeahnte Weise, indem sie streng nachweist, daß die Natur, soweit sie gesetzhaft begreifbar ist, indifferent ist zu Alternativen. Während in der Abstraktion etwas Präsentisches different erfaßt, d.h. begriffen wird, öffnen sich sogleich zukünftige Alternativen, die durch eben den Begriff (das Gesetz) nicht entschieden werden können.

Die Physik enthält so die Widerlegung ihres eigenen naturalistischen Selbst­ver­ständnisses. In der Abwehr des Naturalismus muß der Theologe nicht in ein transzendentales Reich flüchten, das jenseits der Erfahrbarkeit läge und somit immun wäre gegen die naturwissenschaftliche Kritik. Eine solche Flucht würde vielmehr den Verdacht erwecken, ein fragwürdiges „Zwei-Stockwerk-Denken“ sei durch die Hintertür zurückgekehrt. Wir müssen nicht flüchten, denn der Naturalismus ist bereits überwunden. Nun ist nicht länger eine Konkurrenz von Natur und Gnade aufzurichten, die dann wieder mühsam abzubauen wäre; vielmehr sind geschaffene Freiheit und ungeschaffene Gnade in Liebe aufeinander bezogen. Es gibt ein Reich der Gnade, von dem die Theologie zu handeln hat – und dies nicht völlig jenseits der sinnlich erfahrbaren Welt, denn auch diese ist schon Geheimnis.



[1]      Vgl. z.B. F. P. Hager – T. Gregory – A. Maierù – G. Stabile – Friedrich Kaulbach: „Natur“. In: HWP VI (1984) 419-478.

[2]      Weizsäcker: Einheit der Natur (s. Anm. 54), 149.

[3]      Bartels (s. Anm. 60), 43f.

[4]      So lautet die sachlich identische Kritik des ontologischen Gottesbeweises bei Duns Scotus wie auch bei Kant. Zu Scotus vgl. Wolfgang Kluxen: Kommentar zu De primo principio. Abhandlung über das erste Prinzip, 231ff. Zu Kant vgl. Honnefelder: Scientia transcendens (s. Anm. 205), 481ff; Josef Schmucker: Die Ontotheologie des vorkritischen Kant. Berlin – New York: de Gruyter, 1980, passim.

[5]      Duns Scotus: De primo principio III concl. 4 n. 33 (ed. Kluxen 40): „Cuius rationi repugnat posse esse ab alio, illud si potest esse, potest esse a se; rationi primi effectivi simpliciter repugnat posse esse ab alio ...; et potest esse ...; igitur effectivum simpliciter primum potest esse a se. Quod non est  a se non potest esse a se, quia tunc non-ens produceret aliquid ad esse, quod est impossibile; ...“ (Hervorhebung von mir)

 

[6]      Vgl. Martin Heidegger: Holzwege. 7. durchgesehene Auflage. Frankfurt a.M.: Klostermann, 71994, 364. Vgl. Ders.: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer, 182001, passim, v.a. die Schlußsätze, S. 437: „Die existential-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeitlichkeit. Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ – Vgl. Werner Marx: Heidegger und die Tradition (s. Anm. 36), 125-127. 151. 166f; Gustav Siewerth: Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger. Mit einer Einführung versehen von Alma von Stockhausen. Düsseldorf: Patmos, 1987, 58f.

[7]      Heidegger: Holzwege, 80. – Vgl. dazu Carl Friedrich von Weizsäcker: Heidegger und die Nataurwissenschaft. In: Ders.: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München-Wien: Hanser, 51978, 413-431.

[8]      Heidegger, ebd., 89. – Zur Gegenüberstellung Heideggers mit essentialistischen Positionen in der analytischen Philosophie vgl. Ludger Honnefelder: Zeit und Existenz. In: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen. Freiburg-München: Alber, 21996, 333-362.

[9]      Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen (s. Anm. 831), 429.

[10]     S.o. Anm. 832.

[11]     Wir wollen damit nicht Thomas von Aquin vorwerfen, die angedeutete Auslegungsmöglichkeit stecke notwendig in seiner Lehre. So hat Wippel (s. Anm. 192), 189f, jüngst auf den antiparmenideisch gemeinten Sinn der Seinsakt-Lehre hingewiesen.

[12]     Wesen und Existenz sind nach Scotus vermutlich nicht einmal formal different, denn die Existenz ist keine Formalität, sondern Wirklichkeit eines formal Möglichen. Über diese Frage unterrichtet in ausgezeichneter Weise Honnefelder: Ens in quantum ens (s. Anm. 213), 257-267.

 

[13]     Vgl. dazu auch im ersten Teil das Zitat von Weizsäckers bei Anm. 104.

[14]     Vgl. Söder (s. Anm. 728), 94-100, sowie Simo Knuuttila: Duns Scotus’ criticism of the statistical interpretation of modality. In: Jan P. Beckmann et al. (Hrsg.): Sprache und Erkenntnis im Mittelalter. Vol. I. Berlin – New York: Walter de Gruyter 1981 (MM 13/1), 441-­450.

[15]     S.o. S. 250 und S. 268.

[16]     Vgl. Ord. I d. 7 q. 1 n. 27 (Vat. IV 118f); Ord. I d. 2 p. 2 q. 1-4 n. 262 (Vat. II 282f); Ord. I d. 36 q. un. n. 60f (Vat. VI 296); Met. IX q. 1-2 n. 18-21 (ed. Bonaventure IV, 514f). – Vgl. Ludger Honnefelder: „Possibilien. I. Mittelalter“, In: HWP VII (1989) 1126-1135; Steven P. Marrone: Revisiting Duns Scotus and Henry of Ghent on Modality, in: L. Honnefelder et al. (Hrsg.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics (s.o. Anm. 239), 175-189; Ria van der Lecq: Duns Scotus on the Reality of Possible Worlds. In: Egbert Peter Bos (Hrsg.): John Duns Scotus. Renewal of Philosophy (Acts of the Third Symposium Organized by the Dutch Society for Medieval Philosophy Medium Aevum (May 23 and 24, 1996), Amsterdam ‑ Atlanta: Rodopi, 1998 (= Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 72), 89-99; Peter King: Duns Scotus on Possibilities, Powers and the Possible. In: Thomas Buchheim et al.: Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik. Stuttgart – Bad Cannstatt: Frommann – Holzboog, 2001, 175-199.

[17]     Vgl. Lect. I d. 39 q. 1-5 n. 49 (Vat. XVII 494): „... illam libertatem voluntatis consequitur alia potentia, quae est logica (cui etiam correspondet potentia realis). Potentia logica non est aliqua nisi quando extrema sic sunt possibles quod non sibi invicem repugnant sed uniri possunt, licet non sit possibilitas aliqua in re...“ – Vgl. Söder (s. Anm. 728), 94ff.

[18]     Uns scheint sogar in diesem Interesse an der Spekulation über mögliche Welten die essentialistische Neigung erneut durchzubrechen; denn die ganze Spekulation beruht letztlich auf der Präsumtion, den Gottesstandpunkt, wenigstens prinzipiell, einnehmen zu können.

[19]     Auf die moraltheologischen Konsequenzen der Betonung der göttlichen Allmacht können wir hier nicht eingehen. Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Wolter und Williams. Allan B. Wolter: Duns Scotus on the Will and Morality. Selected and Translated with an Introduction by Allan B. Wolter. Translated Edition ed. by William A. Frank. Washington D.C.: The Catholic University of America Press, 1997, 1-29. 54-75; Thomas Williams: Reason, Morality, and Voluntarism in Duns Scotus: A Pseudo-Problem Dissolved: The Modern Schoolman 74 (1997) 73-94; Ders.: The Unmitigated Scotus. In: AGPh 80 (1998) 162‑181.

[20]     Met. VII q. 16 n. 18 (ed. Bonaventure  IV 314f): „Item, ratio ad hoc, cap. 5 vel 4 huius VII: ‘omnia facta a casu et ab arte habent materiam’; et illa est qua res ‘potest esse et non esse’, ibidem. Si ergo materia sit principium per quod aliquid ‘potest esse et non esse’, si esset pars definitionis, ‘quod quid est’ posset generari et per se corrumpi, contra Philosophum, cap. 4 et huius VII paenultimo.”

[21]     Met. VII q. 16 n. 31 (ed. Bonaventure  IV 319; zit. oben Anm. 519).

[22]     Dieser Terminus wird von Carl Friedrich von Weizsäcker häufig verwendet, um eine Theorie dadurch als abgeschlossen zu charakterisieren, daß sie den Widerspruch der semantischen Deutung der verwendeten mathematischen Ausdrücke in der Vorläufer-Theorie und der Folge-Theorie aufzuheben in der Lage ist. So werden z.B. quantitative Meßwerte nach klassischem Vorverständnis anders gedeutet als in der Quantentheorie. Darum gilt es, das alte Vorverständnis in die neue Semantik zu integrieren. Vgl. z.B. Weizsäcker: Aufbau (s. Anm. 59), 253-259. 514ff und passim.

 

[23]     Vgl. dazu v.a. Wölfel (s. Anm. 198), passim.



[1]      Vgl. z.B. William Lane Craig: Time and the Metaphysics of Relativity. Dordrecht-Boston-London: Kluwer Academic Publishers, 2001.