Die Christologie inMartin Luthers späten Disputationen. St. Ottilien: EOS-Verlag, 1990. - 347S.

 

In meiner Dissertation untersuche ich die Rechtfertigungslehre, Soteriologie, Christologie und Trinitätslehre von Martin Luther anhand der Disputationsnachschriften von 1535-1545 (WA 39, I u. II). Besonderes Augenmerk wird auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft sowie das von Gesetz und Evangelium gelegt. Dabei zeigt sich, dass Luthers Theologie durchweg systematisch einheitlich konzipiert ist. Ferner können Recht und Grenzen konträrer Lutherdeutungen verständlich gemacht werden.

 

Leseprobe

4.3.  Bedeutung und Stellenwert der Trinitätslehre in Luthers theologischer Gesamtkonzeption

Die Tatsache, daß Luthers Trinitätslehre bisher so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, wirft die Frage auf, ob der Grund dafür nicht vielleicht in Luthers eigenen theologischen Entscheidungen zu suchen ist. Wie verhält sich seine Trinitätsauffassung zur Mitte seiner Theologie, der Rechtfertigungslehre? Hat A. von Harnack recht, wenn er "keine Brücke" zwischen Rechtfertigungsglauben und Trinität sieht?[1]

Insofern Luthers Soteriologie wesentlich von der Unterscheidung zwischen dem verborgenen und dem offenbaren Gott bzw. zwischen "nacktem" und "verhülltem" Gott bestimmt ist, muß das Verhältnis dieser Unterscheidung zur Trinitätslehre bedacht werden. Nachdem B. Lohse in einem Aufsatz von 1963 diese Frage ausdrücklich gestellt und konstatiert hatte, daß in der Lutherforschung bislang noch keine "befriedigende Lösung" gefunden wurde[2], wies zuletzt (1985) A. Peters darauf hin, daß "die Unterscheidung zwischen dem verurteilenden Gesetzesgericht und dem freisprechenden Evangelium in Gottes Dreieinigkeit selber" hineingreift.[3] In einer Schlußthese faßt Peters sein Ergebnis zusammen:

"Den dreieinigen Gott erkennen und ehren wir erst dort, wo wir im Geist durch den Sohn zu Gottes Vaterherz dringen und darin in einer eschatologischen Fluchtbewegung vor dem verborgenen Gott zum offenbaren Gott fliehen. Heilsame Gotteserkenntnis und segensreicher Lobpreis des Herrn erfolgt nur angesichts des Widerstreites zwischen Gericht und Gnade, Gesetz und Evangelium, Opus alienum und Opus proprium Dei in dieser endzeitlichen Zuflucht."[4]

In diesen Sätzen scheint uns das verzweifelte Bemühen deutlich zu werden, Luthers zentrale Lehre von Gesetz und Evangelium, welche den Gegensatz in Gott selbst hineinträgt, mit einer "ökonomischen" Trinitätslehre zu verbinden, nach welcher Gottes Vaterherz "im Geist durch den Sohn" offenbart ist. In unversöhnlicher Spannung dazu steht jedoch die Notwendigkeit der "eschatologischen Fluchtbewegung vor dem verborgenen Gott zum offenbaren Gott", wobei der verborgene bzw. "nackte" Gott für Luther unleugbare Realität - nämlich der Geber des (negativ verstandenen) Gesetzes - ist. Die Doppeloffenbarung Gottes in Gesetz und Evangelium hat aber nicht nur keinen Bezug zur Offenbarungstrinität, sondern ist auch hinsichtlich ihrer von Luther systematisch hergeleiteten Konsequenz, der Unterscheidung zwischen dem offenbaren und dem verborgenen Gott, aus der Heiligen Schrift nicht (oder jedenfalls nicht unmittelbar) herzuleiten.[5]

So sehr Luther mit der Schrift und Tradition an der Dreipersönlichkeit Gottes festhält, seine diesbezüglichen Aussagen bleiben doch immer umklammert und überschattet von seiner Gesetzestheologie, nach welcher die Verborgenheit Gottes unaufhebbar bleibt. G. Ebeling zieht daraus die Konsequenz, wenn er schreibt, daß "also die Verborgenheit selbst Gott ist und so der offenbare Gott nur gegen den verborgenen Gott, Gott nur gegen Gott geglaubt werden kann und deshalb Gott als Gott im strengsten Sinn geglaubt werden muß".[6]

Ein solcher Glaube steht nicht nur im Gegensatz zur natürlichen Offenbarung Gottes, von der Röm 1,20 spricht[7], sondern untergräbt auch das Verständnis der übernatürlichen Selbstoffenbarung Gottes als des Dreieinen. Die oben (4.2.2 und 4.2.3) zusammengestellten Abweichungen Luthers von der traditionellen Trinitätsspekulation sind deshalb wohl auf dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen dem offenbaren und dem verborgenen Gott zu lesen und nicht einfachhin mit einer größeren Schriftnähe Luthers zu erklären und zu verteidigen.[8]

Die kritische Distanz Luthers zu einigen Auffassungen von Augustinus, Petrus Lombardus, Duns Scotus und sogar zum Kanon "Firmiter" des 4. Laterankonzils erscheint verwunderlich angesichts seines sonst engen Anschlusses an die traditionellen Trinitätsformeln. Seine negativen Stellungnahmen lassen keine in sich geschlossene positive Gegenposition erkennen, sondern erwecken eher den Eindruck von Unmutskundgebungen gegen die analogische und von der philosophischen Spekulation bestimmte Denkweise der Scholastiker.[9] Sein Einspruch dagegen beruht auf der kontroverstheologisch motivierten Entgegensetzung von Philosophie und Theologie bzw. von Natur- und Gnadenordnung, deren "Vermischung" den einzigen Zugang zu Gott - nämlich durch Christus - versperre und stattdessen zum "nackten" Gott führe. So sehr diese Grundidee Luthers eine Rückbesinnung auf die "ökonomische" Trinität zu sein scheint, muß gleichwohl beachtet werden, daß er gar nicht das trinitarische Verhältnis von Sohn und Vater im Auge hat, sondern das von gesetzlichem und evangelischem Gottesverhältnis, d.h. von "nacktem" und "verhülltem" Gott. Das wird etwa deutlich, wenn in Christus selbst die nackte Gottheit ansichtig wird, sofern dieser nämlich als Gesetzgeber und Richter vorgestellt wird.[10] Christus ist der einzige Weg zu Gott nur insofern, als er uns vor der erschreckenden Majestät Gottes schützt; sein inneres personales Verhältnis zum Vater ist "jenseits der Geschöpfe"[11] und kann uns nicht positiv offenbart werden.[12] Das Unterscheidende an Luthers Auffassung ist noch nicht die Rückbindung aller theologischen Aussagen an die Christusoffenbarung - diese Einsicht ist weder den Kirchenvätern noch den Scholastikern fremd -, sondern die Interpretation der Christusoffenbarung anhand der Lehre von Gesetz und Evangelium, welche die trinitarische Grundlegung des Christusgeheimnisses verdrängt.[13] 

Glücklicherweise hat Luther jedoch diese Verdrängung nicht konsequent durchgeführt, sondern aufgrund seiner Treue zur Schrift und zu den alten Konzilien das Trinitätsgeheimnis im Bekenntnis festgehalten und gegen die Antitrinitarier verteidigt. Er hat es aber nicht fruchtbar gemacht für seine Deutung von Inkarnation, Sühnetod Christi und Rechtfertigung des Sünders und so einen "Hohlraum" geschaffen, der - wie wir abschließend als Schlußthese zur weiteren Diskussion stellen - es möglich gemacht hat, daß in der nachfolgenden Zeit, vor allem im Deutschen Idealismus, die verschiedensten unbiblischen Vorstellungen an die Stelle der patristischen und scholastischen Trinitätsspekulation getreten sind.[14]


[1]  Vgl. A. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte III, Tübingen 41910 (Nachdruck Darmstadt 1983), 874. - Vgl. dagegen J. Koopmans, 99ff.

 

[2]  B. Lohse, Luther als Disputator, 107f.

 

[3]  A. Peters, Verborgener Gott - Dreieiniger Gott, 96f. - Peters führt folgende, von uns schon zitierte Disputationsäußerungen an: 39,I, 370,12ff (1. AD, Arg. 4); 389,2ff; 391,18ff (1. AD, Arg. 17); 484,5ff (2. AD, Arg. 29); vgl. oben 3.3, Anm. 13, 15-17, 22-24, 29f.

 

[4]  A. Peters, Verborgener Gott - Dreieiniger Gott, 98.

 

[5]  Vgl. A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, Stuttgart 21952, 55: "Die Unterscheidung zwischen dem offenbaren und dem verborgenen Gott ist Paulus fremd." - Vgl. auch die Kritik J. Moltmanns, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 41981, 222.226, an der Lutherschen Aufspaltung in Gott selbst.

 

[6]  G. Ebeling, Luther, 277 (Hervorhebung von Ebeling).

 

[7]  Vgl. ebd., 260f.

 

[8]  Vgl. etwa die oben (Einleitung zu 4, Anm. 14 und 16) angeführten Ansichten von R. Jansen und H. Beintker. Dagegen wäre wohl die oben (Anm. 5) zitierte exegetische Klarstellung A. Schlatters zu beachten.

 

[9]  Daß Luther Augustinus nie offen kritisiert, sondern vielmehr in seinem Sinne umdeutet (s.o. 4.1, Anm. 34; 4.2.3.2), erklärt sich wohl am einfachsten durch seine (vermeintliche) Übereinstimmung mit diesem in der Rechtfertigungslehre. In den Randbemerkungen zu Augustinus drückte sich Luther viel offener aus; vgl. dazu die kurz vor dem Abschluß stehende Dissertation von J. Wieneke.

 

[10] S.o. 2.2.3, S. 67-72.

 

[11] S.o. 3.3.2, Anm. 56.

 

[12] Vgl. die Auslegung Luthers von Joh 17,22 oben 3.3.3, S. 275-278. Vgl. auch oben 4.2.3.4, S. 315-319.

 

[13] Wir treffen uns hierin mit Th. Beer, 493, der sich wiederum auf K. Holl, W. Maurer und W. Elert beruft (s.o. Einleitung zu 4, S. 280); vgl. auch Th. Beer, 512: "Luther knüpft seine heilsgeschichtlichen Erwägungen nur an eine gemeinsame Schöpfungsaktion der Trinität ad extra an. Der innertrinitarische Grund des modus incarnationis ... ist nicht Gegenstand der Bewunderung von seiten Luthers." - Eine indirekte Bestätigung liefert auch A. Peters, der seine Behauptung, Luther binde die "Schöpfung, Erlösung und Heiligung zusammengreifende Dynamik" ab 1533 "an die immanente Trinität zurück" (Verborgener Gott - Dreieiniger Gott, 83), hauptsächlich durch Verweis auf R. Jansen begründet, dessen ungenügende Erfassung des Verhältnisses von ökonomischer und immanenter Trinität oben (Einleitung zu 4, Anm. 23, und 4.2, Anm. 131) aufgezeigt wurde. Der einzige von A. Peters (85) angeführte Text (WA 50, 275,1-26 = Die drei Symbola ...; a. 1538), der seine These zu stützen scheint, müßte freilich im Kontext untersucht werden, was hier nicht geschehen kann, dürfte aber angesichts vieler auch von A. Peters (v.a. 87ff) angeführter Texte mit ganz anderer Sinnspitze kaum als Beweis ausreichen. Daß Luther sich häufig eng an die Tradition anschließt, wurde ja im Laufe unserer Untersuchung mehrfach belegt, womit seine grundsätzliche Neukonzeption der Christologie und Trinitätslehre jedoch nicht in Frage gestellt ist.

 

[14] Vgl. zur Trinitätslehre des Deutschen Idealismus, insbesondere Hegels L. Oeing-Hanhoff, Hegels Trinitätslehre: ThPh 52 (1977) 378-407; P. Koslowski, Hegel - "der Philosoph der Trinität"? Zur Kontroverse um seine Trinitätslehre: ThQ 162 (1982) 105-131; H. U. von Balthasar, Theodramatik IV, 202-208; ders., Theologik III, 34-41.